Der Kapitalismus im Museum
13. März 2020Die Museumsschau mutet an wie ein mit Kunstwerken und historischen Artefakten illustrierter Lehrpfad: Der führt durch die jahrhundertelange Geschichte einer Wirtschaftsform, die noch heute unser Leben bestimmt - und zwar mehr denn je! Eines Wirtschaftens voller Chancen und Risiken, Freiheiten und Zwänge, dessen Hauptwährung das Geld und Vertrauen, Eigentum und Wachstum sind. "Dass gerade jetzt die Corona-Krise um sich greift", sagt Kurator Wolfger Stumpfe, "ist natürlich reiner Zufall." Zu den Auswüchsen des Kapitalismus zählen globale Vernetzung und internationale Arbeitsteilung, was in der aktuellen Krise laut Stumpfe "wie ein Brandbeschleuniger" wirke.
Ein Zufall ist sicher auch, dass fast zeitgleich mit der Bonner Ausstellungseröffnung in Deutschland das neue Buch des französischen Starökonomen Thomas Piketty erschienen ist - eines kapitalismuskritischen "Kartografen der Ungleichheit", wie ihn die Wochenzeitung "Die Zeit" betitelt. Schon in seinem Vorgängerbuch "Das Kapital im 21. Jahrhundert", das laut Verlag in 40 Sprachen übersetzt und rund 2,5 Millionen Mal verkauft wurde, hatte sich der Gründungsdirektor der "Paris School of Economics" zwischen alle Stühle gesetzt.
Kapitalismus - mehr als ein ökonomisches System
Anhand empirischer Daten wies er nach, dass der Kapitalismus an seinem moralischen Versprechen, die Schranken der Ständegesellschaften zu überwinden und zu einer gerechteren Gesellschaft zu führen, scheitern musste. In "Kapital und Ideologie" übt Piketty erneut Generalkritik: "Der Kapitalismus ist kein Naturgesetz. Märkte, Profite und Kapital sind von Menschen gemacht. Wie sie funktionieren, hängt von unseren Entscheidungen ab", so Pikettys zentraler Gedanke.
Ohne unser kapitalistisches Zutun sähe die Welt also anders aus: "Der Kapitalismus ist mehr als ein ökonomisches System", betont auch Kurator Stumpfe, "er ist eine Gesellschaftsordnung, deren Ursprung in Westeuropa liegt. Seit Jahrhunderten prägt er unser Leben, unsere Kultur, unsere Zivilisation und Mentalität." Das versteht, wer die mit orangefarbenen Gitterregalen bestückten Räume der Bundeskunsthalle durchschreitet - sie erinnern an ein Lager des Onlinehändlers Amazon, dessen Gründer Jeff Bezos als reichster Mensch der Welt gilt.
Drastisches Bild für die Ausbeutung der Natur
Rund 250 ausgewählte Exponate, darunter Kunstwerke ebenso wie historische Artefakte, Dokumente und Alltagsgegenstände bezeugen den Werdegang des Kapitalismus, den die Schau als soziokulturelles Phänomen vorstellt - und zwar nicht chronologisch, sondern gegliedert in Hauptmerkmale wie Individualisierung, Rationalisierung, Akkumulation oder Privateigentum.
Auffälligstes weil zugleich größtes Objekt ist ein riesiger Affenmensch, der auf dem Museumsboden liegt und aussieht wie ein von Lilliputanern gefesselter Gulliver. Erst auf den zweiten Blick sieht man, dass der haarige Körper von einem Heer menschenähnlicher Winzlinge bevölkert wird, die ihn verwerten: Wie Parasiten zapfen sie sein Blut ab, rasieren ihm das Fell, pumpen Augenflüssigkeit in Schläuche und verschwinden mit ihrer Beute in einem Loch in der Wand. Die Künstler Matthias Böhler und Christian Orendt schaffen so ein drastisches Bild für die Ausbeutung der Natur.
Buchhaltung im Mittelalter
In einer Vitrine liegt ein dickes Geschäftsbuch aus dem mittelalterlichen Genua. Es enthält die erste doppelte Buchführung eines venezianischen Kaufmanns, der mit seinem - noch heute gültigen - Prinzip von Konto und Gegenkonto die Finanzbuchhaltung der Kaufleute systematisierte. Wichtige Folge: Kreditgeber ließen sich auf längerfristige Unternehmungen ein. Zu bestaunen ist auch das älteste deutsche Grundbuch, eine sogenannte "Schreinskarte" aus Köln von 1140. "Da wurden zum ersten Mal Immobilienverkäufe notiert", erläutert Stumpfe. Feinsäuberlich ist auf dem Pergament verzeichnet, wem in welcher Straße der Pfarrei St. Laurenz was gehörte.
Große Bedeutung hatte auch die Einführung von Uhren zur Erfassung und Einteilung der Zeit. Lange gab es sie nur am Kirchturm, im 16. Jahrhundert kamen dann aber auch Tischuhren für die Schreibtische der Kaufleute auf. Anfangs hatten sie nur einen Zeiger. Es genügte, die Uhrzeit ungefähr zu kennen. Im 17. Jahrhundert gesellte sich dann der Minutenanzeiger hinzu.
Krisen und Kapitalismus
Ein filigranes Modell der Betriebsanlagen der Vereinigten Ostindischen Compagnie (VOC) aus dem Rijksmuseum in Amsterdam steht für die Innovation, die den Kapitalismus immer wieder befeuert hat: Die VOC war als erstes Unternehmen der Geschichte als Aktiengesellschaft organisiert und konnte dadurch viel mehr Betriebskapital ansammeln als ihre Konkurrenten, die portugiesische Krone und die englische East India Company. Dies sicherte ihr nahezu 150 Jahre lang eine Vormachtstellung in Südostasien, jährlich flossen Dividenden von bis zu 60 Prozent. Das Prinzip machte Schule, rund um den Globus.
Die Ausstellungsmacher versuchen immer wieder, die Besucher einzubeziehen. So kann man etwa einen echten Goldbarren anheben, der 50.000 Euro wert sein soll. Exakt 12,5 Kilogramm wiegt das Edelmetall. Als gefragte Krisenwährung in Corona-Zeiten dürfte sein Wert steigen, während die Börsen weltweit auf Talfahrt gegangen sind.
Ist das die Ausstellung zur Corona-Krise? "Als 1857 die erste große Krise des Kapitalismus ausbrach, über Nacht Wechsel platzten, Banken Pleite gingen und gestandene Kaufleute den Freitod wählten", erinnert der Diplomphysiker, Dozent und Medienkünstler Timo Daum in einem Essay für den Ausstellungkatalog zu "Wir Kapitalisten", "war Karl Marx überzeugt, der noch junge Kapitalismus werde der Krise zum Opfer fallen." Doch schon bald sei Marx klar geworden: "Krisen gehören zum Kapitalismus wie die Butter zum Brot. Statt an ihnen zu zerbrechen, geht er gestärkt aus ihnen hervor." Also schon Licht am Ende des Tunnels? "Wir hoffen, dass jeder hier zwei oder drei Gedanken mit rausnimmt", sagt Kurator Stumpfe. Solange es kein Goldbarren ist...
Wie am 13.3. bekannt wurde, schließt die Bundeskunsthalle ab 14. März 2020 bis voraussichtlich 19. April 2020 wegen des Corona-Virus ihre Pforten.