Der Jahrestag des Hamas-Angriffs und die deutsche Politik
2. Oktober 2024"Es gibt", sagt Norbert Lammert, "keine vergleichbaren Beziehungen zwischen irgendwelchen zwei anderen Ländern auf der Welt." Der langjährige CDU-Politiker und frühere Bundestagspräsident macht deutlich: Das Verhältnis zwischen Deutschland und Israel ist ein besonderes, es ist einmalig.
Heute ist Lammert, 75 Jahre alt, Vorsitzender der CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS). Wenige Tage vor dem Jahrestag des Hamas-Terrors gegen Israel am 7. Oktober 2023 mit rund 1200 Ermordeten und über 230 als Geiseln Verschleppten widmete die KAS diesem einmaligen Verhältnis einen Studientag - mit deutlicher Kritik an der Bundesregierung.
Zur deutschen Geschichte gehört die Ermordung von sechs Millionen Jüdinnen und Juden in der Zeit des Nationalsozialismus. Die besondere Verantwortung Deutschlands für Israel, das zur Heimat der Überlebenden wurde, packt die Politik in ein einziges Wort: "Staatsräson". Es taucht im Grundgesetz, der deutschen Verfassung, nirgends auf.
Merkels Erbe
Im März 2008 sprach die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel von der CDU als erste ausländische Regierungschefin überhaupt in der Knesset, dem israelischen Parlament. "Jede Bundesregierung und jeder Bundeskanzler vor mir waren der besonderen historischen Verantwortung Deutschlands für die Sicherheit Israels verpflichtet. Diese historische Verantwortung Deutschlands ist Teil der Staatsräson meines Landes", betonte sie. Das heiße, die Sicherheit Israels sei für sie "als deutsche Bundeskanzlerin niemals verhandelbar".
Und im Koalitionsvertrag der nun in Deutschland regierenden Ampel-Parteien SPD, Grüne und FDP steht: "Die Sicherheit Israels ist für uns Staatsräson".
Seit dem Terror des 7. Oktober, der Israel ins Mark erschütterte, verweisen Politiker häufiger auf die Staatsräson. Auch Merkels Nachfolger Olaf Scholz (SPD). "In diesem Moment gibt es für Deutschland nur einen Platz. Den Platz an der Seite Israels. Das meinen wir, wenn wir sagen: Die Sicherheit Israels ist deutsche Staatsräson", betonte er bei einer Regierungserklärung im Bundestag. Doch vor und auch nach dieser Bekräftigung verärgern politische Entscheidungen Berlins Israel, beispielsweise bei Abstimmungen zu UN-Resolutionen mit Blick auf Nahost.
Der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Josef Schuster, zeigte sich bei der Tagung der Konrad-Adenauer-Stiftung ernüchtert. Bei der Rede von der "Staatsräson" gehe es nicht primär um militärische Unterstützung Israels, sondern "es geht darum, auch für Israel einzustehen". Nach seiner Beobachtung schwinde das in der deutschen Politik. Zunehmend heiße es "Ja, aber", klagte er und nannte die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock namentlich.
"Nicht schon wieder"
Schuster ist längst ein Mahner der deutschen Politik, dessen Ton schärfer wird. Als nach dem 7. Oktober und schier explodierendem Antisemitismus in Deutschland Politiker bis hin zum Bundespräsidenten ihr "Nie wieder!" wie ein Mantra betonten, setzte Schuster dem ein "Nicht schon wieder" entgegen.
Und als er Anfang Juli in Potsdam bei der Einweihung der neuen Synagoge der Stadt sprach, beklagte er, dass es die Fraktionen des Bundestags nicht schafften, sich auf eine Resolution für den Schutz jüdischen Lebens und gegen Antisemitismus zu verständigen. Zu den Zuhörern zählte Außenministerin Baerbock; Kanzler Scholz war angekündigt, sagte aber Stunden vorher aus Termingründen ab.
Dass eine solche Resolution auch zum Jahrestag immer noch aussteht, nannte Schuster nun "beschämend" und verwies auf gesellschaftliche Stimmungen. Die Zahlen antisemitischer Übergriffe sind auch in den vergangenen Monaten weiter angestiegen, jüngste Umfragen belegen schwindende Unterstützung der deutschen Bevölkerung für Israel. Es häufen sich Proteste, Graffiti oder andere Übergriffe gegen jüdische Einrichtungen.
Jüdische Teilnehmende der Tagung schilderten entsprechende Erfahrungen. Sehr eindrücklich wurde ein Gespräch mit Ricarda Louk, deren Tochter Shani von der Hamas am 7. Oktober verschleppt und ermordet worden war. Ricarda Louk sprach bei der Veranstaltung in Berlin über die Situation in Israel, Ängste, Perspektiven. Sie betonte, in Erinnerung bleiben solle das Bild ihrer lebensfrohen Tochter.
Wer am Montag ins Tagungsgebäude der Adenauer-Stiftung wollte, musste sich vorbeischlängeln an rund 20 pro-palästinensischen Protestlerinnen, von denen sich einige festgekettet hatten und die die Teilnehmenden der Tagung mal als "Nazis", mal als "Mörder" beschimpften. Stunden später wurden sie kurzzeitig festgenommen. Jüdische Studierende sagten dazu später im Gespräch, sie seien als Kinder mit ihren Eltern aus Belarus oder der Ukraine nach Deutschland gekommen - und würden nun als "Nazis" beschimpft.
"Staatsräson der Hamas"
Zu denen, die von Polizisten geschützt ins Gebäude kamen, gehörte der israelische Botschafter in Deutschland, Ron Prosor. Und deutlich wie selten wandte sich der Diplomat gegen den deutschen Kurs.
Bezeichnend war dabei, wie Prosor den Begriff "Staatsräson", den kein anderes Land in einer irgendwie vergleichbaren Form kennt, zunächst verwendete. Die Hamas habe sich "als Staatsräson die Vernichtung des jüdischen Staates zum Ziel gesetzt", sagte er.
Wenn der Bundeskanzler nach dem Terror beteuert habe, die einzige Seite, wo Deutschland stehen könne, sei auf der Seite Israels, dann müsse man das mehr in die Tat umsetzen. Dann bemängelte Prosor den deutschen Kurs in der UNO und in UN-Gremien bei Resolutionen, die Israel kritisieren. Immer wieder enthalte sich Berlin, "unsere Freunde". "Diese Enthaltung ist keine Haltung", meinte er.
Sicher, als Begriff sei Staatsräson schön. Das müsse dann aber konkret werden zum Beispiel bei der Unterstützung der Freunde in den internationalen Gremien, die Israel "ständig dämonisieren". Sie warten. So viel ist klar.
Norbert Lammert hatte dazu dann doch noch etwas zu sagen. Er könne die Wahrnehmung Prosors mit Blick auf das deutsche Abstimmungsverhalten in der UNO "nachvollziehen“. Aber man könne daraus - gemeint war wohl der Gedanke der Staatsräson - schwerlich einen "Unterstützungsanspruch für was auch immer, in welchem Umfang auch immer, mit welchen Folgen auch immer“ ableiten. Und der CDU-Politiker betonte die Rolle Deutschlands: "Wenn es ein Land gibt, das sich besonders zurückhaltend sollte, es noch besser zu wissen, wie sie ihr Recht auf Selbstverteidigung wahrzunehmen haben, dann sind wir das.“