Die Geschichte eines Satzes
18. September 2020Ein kurzer Satz von großem Gewicht: "Der Islam gehört inzwischen auch zu Deutschland", stellte der damalige Bundespräsident Christian Wulff am 3. Oktober 2010 fest, in seiner Rede zu 20 Jahren deutscher Einheit. Mit seinem Satz stieß Wulff eine Debatte an, die bis heute andauert. Es gab Empörung hier, große Dankbarkeit da. Und viele Suchbewegungen.
Ein schwieriger Prozess: Millionen von Muslimen leben in Deutschland, in der zweiten, dritten, vierten Generation. Und doch ist der Prozess von Integration und Anerkennung langwierig und holprig. Wulff habe 2010 einen Nerv getroffen, in den Jahren danach sei "viel geschehen", sagt die Göttinger Islamwissenschaftlerin Riem Spielhaus anerkennend. Aber "spätestens seit 2016" stagnierten Prozesse und Verhandlungen. "Teilweise sind sogar Schritte rückwärts zu beobachten", so die Islamwissenschaftlerin bei einer Gesprächsrunde des Mediendienstes Integration in Berlin.
Aber was ging voran? Wo genau hakt es? Nur wenige Fragen könne allein die Bundesregierung bundesweit regeln, beispielsweise die Frage einer muslimischen Militärseelsorge. Bei anderen Themen, erläutert Spielhaus, nutzen Bundesländer zum Teil verschiedene rechtliche Wege, um muslimische Angebote zu etablieren. Da geht es beispielsweise um die Bestattung nach islamischem Brauch, die Möglichkeit zur Freistellung an muslimischen Feiertagen, Krankenhaus- oder Gefängnisseelsorge für Muslime, islamische Theologie an Hochschulen. Die deutlichsten Unterschiede zwischen den Bundesländern finden sich übrigens beim Thema muslimischer Religionsunterricht.
Anerkennend verweist Spielhaus darauf, wie sich juristisch in den vergangenen Jahren der Blick verändert habe. Wenn sich die Gerichte in Deutschland grundlegend mit religiösen Angelegenheiten befassten, sei immer seltener vom "Staatskirchenrecht" die Rede und stattdessen mehr und mehr vom "Religionsverfassungsrecht".
Wer soll Partner sein?
Zum Wesen des Islam gehört, dass er - anders als die Kirchen - nicht hierarchisch verfasst ist und keine offiziellen Spitzenvertreter kennt. Bei einigen großen Zusammenschlüssen scheut die Politik allzu große Nähe, weil sie Einfluss aus dem Ausland fürchtet - wie etwa bei dem türkisch finanzierten Dachverband Ditib. Bei manchen Dachorganisationen bezweifelt Spielhaus zudem, dass sie wirklich repräsentativ seien. Diese Zersplitterung - oder positiv gesprochen: Vielfalt - muslimischen Lebens ist jenseits der Vorbehalte von politischer Seite gelegentlich auch bei öffentlichen Veranstaltungen der Deutschen Islam Konferenz zu spüren: Wenn sich unterschiedliche religiöse Richtungen oder Träger kritisch beharken und widersprechen.
Das prägte die stockende weitere Entwicklung der vergangenen Jahre. Sobald die große Politik mit den Verbänden zu tun hat, scheint das Terrain blockiert. Zuletzt im Juli, als das Auswärtige Amt die muslimische Rechtsanwältin Nurhan Soykan ins Beraterteam seiner Abteilung "Religion und Außenpolitik" holen wollte. Nach massiver Kritik am Zentralrat der Muslime in Deutschland, ZMD, dessen Generalsekretärin Soykan ist, ruderte das Ministerium zurück. Die Einbindung von Beratern mit religiösem Hintergrund liegt seither auf Eis.
Fruchtbare Arbeit an der Basis
Wo es in den vergangenen Jahren trotz solcher Hindernisse positive Entwicklungen gab, liegt das an einem eher pragmatischen Politikansatz: Der versucht die Frage der offiziellen Verbände auszuklammern und setzt eher auf Einbeziehung von Muslimen in konkrete Programme.
Serap Güler, CDU-Politikerin und Integrations-Staatssekretärin im größten deutschen Bundesland Nordrhein-Westfalen, nennt als Beispiel die Mitte 2019 eingerichtete "Koordinierungsstelle für Muslimisches Engagement" des Landes NRW. Die Einrichtung arbeite mittlerweile mit rund 200 Vereinen zusammen. Güler spricht von einer "bunten und vielfältigen Vereinslandschaft", nennt als Beispiele einen muslimischen Karnevalsverein und eine Pfadfindergruppe, aber vor allem Inklusionsgruppen. Diese Kräfte wolle die Politik "empowern".
Jenseits der Verbände
Noch weiter geht Dennis Sadiq Kirschbaum. Der junge Muslim ist Vorsitzender des 2019 gegründeten Vereins JUMA. Die Abkürzung steht für "jung, muslimisch, aktiv". Kirschbaum sagt, die Mitglieder seien junge Muslime unterschiedlicher Traditionen, die sich deutsch fühlten und mehr öffentliche Mitsprache wünschten. In seiner Generation verlören die gängigen Islamverbände an Relevanz, zum Teil lösten sich Jüngere ganz von den Dachverbänden. Nach Kirschbaums Angaben wollen sich 16 muslimische Jugendverbände, die nicht primär konfessionell verankert seien, bald zu einem Bündnis muslimischer Jugendarbeit zusammenschließen und gemeinsam "eine Stimme haben".
Und trotzdem. Die Grundstimmung scheint schwieriger zu werden. Zu den Herausforderungen zählt Spielhaus "nicht zuletzt ein religionsskeptisches und zunehmend islamfeindliches Klima in Deutschland". Und islamische Organisationen verfügten gerade im Vergleich zu den großen Kirchen "über wenig finanzielle und personelle Ressourcen und Kompetenzen".
Der blutige Terror von Hanau, bei dem im Februar ein Rassist neun Migranten ermordete, entsetzte das Land und verunsicherte auch viele derer, die schon Jahrzehnte hier leben. Zur Frage der kritischen Grundstimmung hat Bundesinnenminister Horst Seehofer in dieser Woche einen Unabhängigen Expertenkreis Muslimfeindlichkeit (UEM) eingesetzt. Zwölf Experten sollen die Politik bei diesem Thema stärken.