Der Henker des Oktoberfests
30. September 2013"Keine Angst, außer'm Schädel kippt nix weg", krächzt der imposante Mann mit weiß geschminktem Gesicht und buschigem Schnurrbart in tiefem Bairisch. Auf dem Kopf trägt er einen schwarzen Zylinder, er ist der Henker hier, Henker "Ringo". Neben ihm auf der kleinen Zeltbühne steht eine Frau in schwarzem, hochgeschlossenen Korsagenkleid. Auch auf ihrem Kopf thront ein Zylinder. "Wer hingerichtet wird, bekommt eine Zipfelmütze, damit er nicht mehr hört und sieht, was um ihn herum geschieht", zischt sie. Nun fehlt ihr, der Scharfrichtichterin ("Schichtlin") und dem Henker nur noch ein Opfer.
400 Vorstellungen pro "Wiesn"
Sie tun es täglich 25 Mal, an 16 Tagen Oktoberfest oder der "Wiesn", wie das größte Volksfest der Welt auch genannt wird. Die Hinrichtung ist die größte Attraktion des Traditionsvarietés namens "Auf geht’s beim Schichtl". Schon seit 1869 öffnet die Bühne jedes Jahr aufs Neue für die Besucher des Oktoberfests, das seit 1810 auf der Theresienwiese in der bayerischen Landeshauptstadt München stattfindet. Henker Ringo ist schon seit fast 30 Jahren dabei, er ist Routinier.
Auch dieses Mal findet sich schnell Futter für die Guillotine, die unübersehbar im hinteren Bühnenraum steht: Eine Frau aus einer Gruppe Dirndl-Trägerinnen soll es sein, Ringo winkt sie zu sich rüber. Auf ihrem Weg zur Bühne wird die "Todgeweihte" von dem kreischenden Gelächter und Gejohle ihrer Freundinnen begleitet. Dort angekommen werden ihr die Augen verbunden und wie angekündigt die schwarze Kapuze übergestreift.
Bei Drei fällt das Beil
"So, Kopf gerade, so stirbt sich's leichter", brummt Ringo – wieder Gelächter aus dem Publikum. Die Frau, nun blind, hat auf einem Brett hinter der Guillotine Platz genommen. "So!", ruft Ringo, zieht einen Hebel, die Frau quiekt und wird mit einem Ruck in die Waagerechte befördert. Und dann wird es ernst, die scharfe Klinge des Fallbeils blitzt im Scheinwerferlicht, die etwa 30 Zuschauer im dunklen Zuschauerraum tuscheln. "Ja, dann zählen wir mal bis drei und dann fällt das Beil und der Kopf vom Rumpf", sagt die Schichtlin, welche augenscheinlich die Leitung der Hinrichtung übernimmt. "Oans, zwoa, drei!", ruft sie in bairischem Dialekt. Das Beil fällt. Gestorben wird dann aber doch nicht, sei an dieser Stelle verraten.
Henker Ringo steht kurze Zeit später am Bühnenausgang für ein kurzes Gespräch zur Verfügung. Viel Zeit hat er aber nicht, die nächste insgesamt fünfzehnminütige Vorstellung beginnt schon wenige Minuten später. Die obligatorische Hinrichtung bildet dabei nur den Höhepunkt, Zauberei, Tanz und eine Jonglage-Nummer gehören ebenfalls zum Programm des insgesamt 11-köpfigen Schichtl-Teams. Wie denn so ein Tagesablauf eines Teilzeit-Henkers aussieht? "14-Stunden Tage sind das", erklärt Ringo, der mit bürgerlichem Namen Hjalmar-Maximilian Praetorius heißt. "Und wenn man im Bett liegt, muss man erst einmal zwei Stunden warten, bis man einschlafen kann - weil sich alles dreht."
Sensation mit einfachsten Mitteln
Aber das ist es ihm wert. "Der Reiz daran ist das Wiesn-Gefühl, und dass man in einem uralten Schaustellerbetrieb mitarbeitet. Mit den einfachsten Mitteln und ganz ohne Elektronik machen wir etwas, das den Leuten heute noch Spaß macht." Für die Zuschauer gehe es heute, wie Ende des 19. Jahrhunderts auch, um das Sensationserlebnis, bei einer (Show-)Hinrichtung dabei zu sein. Ringo berichtet stets mit einem kleinen Augenzwinkern, der Humor kommt in seinen Sprüchen nicht zu kurz.
Nach der Vorstellung gibt es unmittelbare Rückmeldungen – und die seien eigentlich immer positiv, berichtet Schichtl-Chef Manfred Schauer während einer kurzen Bühnenpause: "An der Reaktion der Leute merkt man, dass sie den Schichtl noch mögen, obwohl er schon 144 Jahre alt ist." Geschäftsmann und Varieté-Quereinsteiger Schauer übernahm das Theater 1985 von den Nachfahren der Künstlerfamilie Schichtl. Er übernimmt die Rolle des Anheizers auf der vorderen Bühne, an dem die Oktoberfestbesucher passieren. Dort stellt er Akteure und Attraktionen vor. Es ist ihm ein Herzensanliegen. In den Pausen begrüßt er die Gäste der seit 2007 zum Theater zugehörigen Schichtl-Wirtschaft persönlich.
Eine Kleinstadt niedergemäht
An die 14.000 Hinrichtungen hat der inzwischen 70-jährige Schausteller Praetorius nach eigener Schätzung in seinen Jahren als "Henker" schon durchgeführt. "Ich habe mein Soll erfüllt, könnte man meinen. Eine Kleinstadt ist schon niedergemäht." Er lacht. Eigentlich wäre er ja schon längst Rentner. Seit ein paar Jahren lebt der gebürtige Münchener in einem kleinen Häuschen am Plattensee in Westungarn - sein Rückzugsort, in dem er sich von den Wiesen-Wochen erholt. "Mit dem Schichtl aufhören kann ich aber trotzdem nicht", sagt er ohne jeden Zweifel. In München bin ich über das Jahr noch etwa drei Monate".
Wie man eigentlich Show-Henker werde? "Dafür gab es kein Stellenangebot. Das ist ein Beruf, den man von jemandem übernimmt, der aufhört, einen anspricht und sagt: Komm, mach du mal weiter." Entweder, man kündige dann nach der ersten Saison auf oder "man macht es dann auch wieder, bis man umfällt." Praetorius' Vorgänger gab seinen Job mit 92 Jahren ab.