Der ewige Lockdown in Argentinien
26. Mai 2021Die Spezialeinheit der Polizei fährt in mehreren Wagen vor, gleich zwei Dutzend Beamte der Eliteeinheit sind bereit für den Einsatz der spektakulären Operation.
Der Hund, der es sich vor der Haustür der Familie Maza im bescheidenden Wohnviertel Itatí in der Provinzhauptstadt Formosa gemütlich gemacht hat, kann die Polizisten nur für einen kurzen Moment ablenken. Dann treten sie die Tür ein und bahnen sich den Weg ins Haus. Auf der Suche nach Gustavo Maza.
Hat es die Eliteeinheit auf einen Dieb abgesehen, einen Mörder gar? Oder einen Drogenhändler? Nein, Gustavo Maza ist ein unbescholtener Bürger. Ein junger Argentinier, der an COVID-19 erkrankt ist, aber keinerlei Symptome zeigt.
Er hat das vermeintliche Verbrechen begangen, die Quarantäne zuhause mit seiner Mutter und seiner Schwester verbringen zu wollen, statt der Aufforderung nachzukommen, sich in das Isolationszentrum von Formosa zu begeben.
Das Video von Mazas Festnahme vor zwei Wochen ging viral, und es sagt viel aus über ein Land, in dem die Nerven seit kurzem wieder spürbar blank liegen. Während in Deutschland darüber gestritten wird, wann denn endlich wieder die Biergärten aufmachen, wird Argentinien gerade von einer heftigen zweiten Corona-Welle erwischt.
Politik mit dem Virus
30.000 Neuinfektionen pro Tag, eine Sieben-Tage-Inzidenz von knapp 500, mittlerweile mehr als 75.000 Tote – Präsident Alberto Fernández verordnete dem Land einen strikten Lockdown und sagt: "Wir erleben gerade den schlimmsten Moment der Pandemie!"
In der bettelarmen Provinz Formosa an der Grenze zu Paraguay trifft man viele Menschen, die einwenden würden, nein, wir hatten schon wesentlich schlimmere Momente.
So wie Gabriela Neme. Sie sagt: "An keinem Ort der Welt wurden die Menschenrechte wegen der Durchsetzung der Corona-Maßnahmen so verletzt wie in Formosa." Denn Fälle wie den von Gustavo Maza gab es zuhauf.
Die Stadtverordnete Neme ist die größte Kritikerin der Corona-Maßnahmen der Provinzregierung von Gouverneur Gildo Insfrán, Parteifreund des Präsidenten, der seit mehr als einem Vierteljahrhundert in der 200.000-Einwohner-Provinz die Zügel in der Hand hält.
Autoritärer Albtraum
Insfrán rühmt sich mit den restriktivsten Maßnahmen des Landes und niedrigen Corona-Zahlen. Für Neme ist die Politik ein autoritärer Albtraum und Rückfall in längst überwunden geglaubte Zeiten. Die Stadtverordnete hat die Nacht, mal wieder, auf dem Polizeikommissariat verbracht, nachdem sie erneut gegen die Corona-Politik der Provinz aufgemuckt hatte und auf die Straße gegangen war. Erst um halb vier morgens kam sie auf freien Fuß, diesmal bekam sie keine Gummigeschosse ab wie beim letzten Mal.
Wenn sie Menschen in den Nachbarprovinzen hört, die sich über den langen Lockdown in Argentinien beschweren, kann sie nur müde lächeln: "Wir waren hier ein komplettes Jahr eingesperrt, keine Schule, keine Universität, Restaurants und Fitnessstudios zu und keinerlei Kulturveranstaltungen. Und alles von der Polizei bewacht."
Die rigiden Maßnahmen samt der polizeilichen Überwachung wären ausreichend, um Formosa zu einem Ort trauriger Berühmtheit auf der weltweiten Corona-Landkarte zu machen. Doch es ist sind vor allem die Geschichten aus den in Windeseile errichteten 140 Quarantäne- und Isolationszentren, die fassungslos machen.
Eingesperrt im Isolationszentrum
Umfunktioniert aus Hotels, Vereinsheimen und Schulen, sollten diese helfen, das Virus einzudämmen. Die aber, wie es José Miguel Vivanco, der Direktor für Amerika von Human Rights Watch ausdrückt, genau das Gegenteil bewirkten: "COVID-19-Maßnahmen sollten helfen, Menschen zu schützen, und nicht, sie in noch größere Gefahr zu bringen."
Mehr als 25.000 Menschen wurden in den Zentren mittlerweile kaserniert. Positiv-Getestete, Kontaktpersonen und Menschen, die auf ihr Testergebnis warteten, zusammen in überfüllten Hallen, ebenso wie Männer, Frauen und Kinder, eingepfercht in engen Acht-Bett-Zimmern. Viele mussten die vorgeschriebenen 14 Tage dort ausharren, einige noch länger, manche einen ganzen Monat.
Die hygienischen Bedingungen waren teilweise katastrophal, Dutzende Menschen mussten sich ein Bad teilen. Und wo es an ärztlichem Personal an allen Ecken und Enden mangelte, gab es ausreichend Polizisten, welche die Zentren rund um die Uhr bewachten. Statt das Virus zu verbannen, lud man es förmlich ein.
Diabetikerin stirbt, Schwangere verliert ihr Kind
"Man hat hier keine Zentren zur Isolierung und für die Quarantäne geschaffen, sondern Haftanstalten, in denen Freiheit und Menschenrechte eingeschränkt waren", sagt Gabriela Neme. Da ist die Geschichte der älteren Diabetikerin, der man die notwendigen Medikamente verweigert, und die in einem Isolationszentrum von Formosa stirbt.
Und da ist, natürlich, der Fall Zunilda Gómez. Sie ist im dritten Monat schwanger, als sie im Januar zusammen mit ihren drei Kindern, zwölf, acht und fünf Jahre alt, in ein Hotelzimmer eingesperrt wird. Plötzlich bekommt sie Blutungen, doch niemand reagiert auf ihre Hilfeschreie.
Ihre Tochter klettert aus dem Fenster, um Hilfe zu holen. Die Polizei fährt Gómez in ein Krankenhaus, doch es ist zu spät: sie erleidet eine Fehlgeburt. Und ihre drei Kinder? Bleiben bis zum nächsten Morgen eingesperrt im Zimmer zurück.
Das Corona-Wunder, eine Chimäre
Mittlerweile sind die schlimmsten Isolationszentren geschlossen, der Menschenrechtsbeauftragte der Zentralregierung in Buenos Aires hatte dies veranlasst. Doch noch immer ist häusliche Quarantäne nur erlaubt, wenn die Wohnung gewissen Standards entspricht. Gerade die ärmere Bevölkerung landet deshalb nach wie vor in den umstrittenen Isolationszentren.
"Die Provinzregierung investiert lieber in diese Zentren, deren Logistik und Überwachung statt in die medizinische Versorgung", sagt Gabriela Neme. "In den Krankenhäusern hier kommt hingegen nur ein einziger Arzt auf 40 oder 50 Betten."
Das Corona-Wunder von Formosa mit den niedrigen Infektionszahlen, mit dem Provinzgouverneur Insfrán gerne prahlte, hat sich in den vergangenen Tagen übrigens in Luft aufgelöst. In nur 48 Stunden bestätigte die Provinzregierung auf einen Schlag 10.000 Corona-Neuinfektionen. Wie das passieren konnte? Es habe einfach, so die Verantwortlichen, einen Datenstau im Computersystem gegeben.