Der Ethikrat als Wegweiser durch die Krise
10. April 2020In der Corona-Krise feiert ein Politiker-Wort Auferstehung, das lange eher in der Versenkung verschwunden war: alternativlos. Die drastischen Einschränkungen für die Bevölkerung sind unumgänglich, es geht nicht anders, wir haben keine Wahl, ein Zeitpunkt für eine Lockerung kann nicht genannt werden, so klingen Bundeskanzlerin, Bundespräsident, Ministerpräsidenten.
"Nicht zu streiten, wäre undemokratisch"
Peter Dabrock, der Vorsitzende des Deutschen Ethikrates, hält davon nichts. Anfang der Woche räumte der evangelische Theologe an der Universität Nürnberg-Erlangen zwar ein, dass es zu früh sei für eine Lockerung, nicht aber für eine Debatte darüber. Dabrock: "Alles andere wäre ein obrigkeitsstaatliches Denken, das bei uns nicht verfangen sollte und mit dem man das so notwendige Vertrauen der Bevölkerung nicht stärken würde." Sonst drohe das Schicksal der Opfer der Einschränkungen aus dem Blick zu geraten.
Dabrocks Kollege in dem Gremium, der Jurist Steffen Augsberg, ergänzte, es spreche nichts dagegen, einzelne Alltagsbeschränkungen aufzuheben und später erneut zu verhängen, falls es die Situation in der Zukunft erfordere: "Es gibt nicht die einzig richtige Lösung", sagte Augsberg. Entscheidungen im Zweifel rückgängig zu machen, sei kein Versagen der Politik: "Wir sind hier alle auf einer gemeinsamen Suche nach dem richtigen Weg."
Über die Grenzen des Fortschritts
Sich zu aktuellen Problemlagen selbst zu Wort zu melden, ist das gute Recht des Ethikrates. 17 Stellungnahmen etwa zu Fragen der Gentechnik oder der Sterbehilfe haben die 26 Experten bislang abgegeben. Beschlüsse erzwingen kann der Rat nicht, er arbeitet im Wesentlichen auf zwei Feldern: Der Beratung der Politiker und der Herstellung von Öffentlichkeit bei komplexen und umstrittenen Themen.
Zumeist kreisen die Empfehlungen des Gremiums um ethische und moralische Fragen, medizinische Grenzen des technischen Fortschritts, oder um die Verankerung neuer Techniken in einem demokratischen Gemeinwesen. Deshalb gehören dem Rat evangelische und katholische Theologen an, auch Mitglieder des Zentralrates der Juden in Deutschland. Und Mediziner, Biologen, Juristen. Ab und an wird der Rat dafür kritisiert, ein Übergewicht an christlichen Vertretern zu haben.
Ernannt von Parlament und Regierung
Ursprünglich wurde die Expertengruppe als "Nationaler Ethikrat" vor gut 20 Jahren vom damaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) ins Leben gerufen. Seit 2008 heißt das Gremium "Deutscher Ethikrat", die Mitglieder werden je zur Hälfte von Bundestag und Regierung vorgeschlagen, der Bundestagspräsident ernennt sie dann für vier Jahre.
Ausdrücklich dürfen die Mitglieder weder dem Parlament noch der Regierung angehören, das soll ihre Unabhängigkeit garantieren. Für ihre Arbeit erhalten die Experten etwa 1,7 Millionen Euro im Jahr an staatlichen Geldern.
Nur ein zahnloser Tiger?
Von Kritikern wird das Gremium hier und da als zahnloser Tiger abgewertet, aber das Wort der Experten hat doch Gewicht. So forderte der Rat ganz zu Beginn der Corona-Krise, dass Krankenhäuser freie Intensivbetten zentral melden müssten, was die Politik mittlerweile umgesetzt hat.
Oft genug aber ist das Votum zu komplexen Fragen im Rat selbst umstritten, was das Gremium dann öffentlich macht: Im September 2014 etwa forderte die Mehrheit des Ethikrates eine Aufhebung des Inzestverbotes. Einvernehmlicher Sex zwischen erwachsenen Geschwistern sollte nicht mehr unter Strafe gestellt werden. Aber neun Mitglieder des Ethikrates hielten in einem Minderheitenvotum an der Strafbarkeit von Inzest fest. Bis heute verbietet Deutschland Sex zwischen Geschwistern.
2012 sprach sich das Gremium für die umstrittene Anerkennung intersexueller Menschen aus. Der Ethikrat vertrat die Auffassung, dass sie als Teil gesellschaftlicher Vielfalt Respekt und Unterstützung der Gesellschaft erfahren müssen. Zudem müssten sie vor medizinischen Fehlentwicklungen und Diskriminierung in der Gesellschaft geschützt werden.
Ethikräte in vielen Ländern
Einmal im Monat trifft sich der Rat, und er pflegt regen Austausch mit seinen Partnerorganisationen im Ausland. Bei der Gründung des Vorläufers des Ethikrates 2001 war Deutschland im Übrigen eher ein Nachzügler, was die kontinuierliche Beratung in ethischen und moralischen Fragen angeht. In vielen Ländern gibt es vergleichbare Beratungsgremien schon länger, so in Italien seit 1990, in Belgien seit 1996, und in Frankreich sogar schon seit 1983.