Der ESC und die Politik
2. Mai 2014"Natürlich findet der ESC nicht im luftleeren Raum statt, sondern in einem konkreten politischen und gesellschaftlichen Umfeld", stellte ARD-Unterhaltungskoordinator Thomas Schreiber in einem Interview für eurovision.de fest. Und dieses Umfeld in Russland bereitete der European Broadcasting Union, unter deren Dach jedes Jahr der größte Musikwettbewerb der Welt stattfindet, schon Ende 2013 Sorgen.
Antischwulenpropaganda und Gesetze, die die Rechte der sexuellen Minderheiten in Russland verletzten, waren Grund für einen ungewöhnlichen Schritt.Der Lenkungsausschuss der EBU schickte Briefe an zwei für den ESC in Russland zuständige Fernsehkanäle, um Garantien für die Sicherheit der Teilnehmer, Journalisten und Fans zu erhalten. Normalerweise wird die Sicherheitslage geprüft, nachdem bekannt ist, welches Land die nächste Show ausrichtet und nicht vorher.
Inzwischen ist die Schwulendiskriminierung in Russland - das Lieblingsthema westlicher Medien auch vor den Olympischen Winterspielen in Sotschi - Schnee von gestern. Denn wie ein ESC-Fan in seinem Kommentar auf prinz-esc.de schrieb: "Das Schlimmste, was passieren kann, wäre, wenn Russland gewinnt und der nächste ESC auf der Krim wäre".
Darf man für Russland anrufen?
Für den Sieg braucht Russland zur Hälfte Stimmen der nationalen Jurys, zu der anderen - Anrufe von Fernsehzuschauern aus europäischen Ländern. "Darf man für Russland anrufen?", fragt mit Blick auf die Moskauer Rolle in der Ukraine-Krise Matthias Braitinger in seinem Beitrag für prinz-esc.de. Neben eurovision.de ist dieser Blog einer der ausführlichsten Informationsquellen über den ESC im deutschsprachigen Raum.
Russland hat ein Zwillingspaar zum Eurovision Song Contest nach Kopenhagen geschickt. Anastasiya und Mariya Tolmachevy sind mit 17 Jahren die jüngsten unter den Teilnehmern des diesjährigen ESC. Sie sind hübsch, haben langes blondes Haar, rundliche Gesichter und eine durchaus ansehnliche Figur. Und singen können sie auch. Die Zwillinge haben bereits 2006 den Eurovision Song Contest für Kinder gewonnen.
"Entwaffnender Beitrag"
Das reicht aber nicht, um im Voraus Sympathiepunkte zu sammeln. "Jeder russische Beitrag würde 2014 besonders kritisch beleuchtet, daher ist es womöglich keine schlechte Strategie, eine einfache und unschuldig verpackte 'Message of love' zu entsenden - gewissermaßen ein entwaffnender Beitrag", schreibt Oliver Lepold auf prinz-esc.de. Denn wie er feststellte, allein die Ankündigung des russischen Duos habe unter Fans kontroverse Diskussionen über die Teilnahme Russlands am ESC ausgelöst.
Einer der Kritiker meinte, da würden nicht zwei nette Mädels auf der Bühne stehen, sondern "ein Act, der sein Land vertritt" und damit seien die Teeniegirls die offiziellen Vertreter Russlands. "Sollte man sie deswegen bestrafen, für sie nicht anrufen oder in der Halle ausbuhen?"
Ein Balanceakt
"Nein", ist sich Matthias Braitinger sicher. "Auf dem Voting-Board wird im Mai "Russland" stehen - doch auf der Bühne standen zuvor zwei junge Mädchen, die eben nicht im Kreml sitzen und keine Schuld an der aktuellen politischen Lage tragen", begründet er seine Meinung.
Und die Frage nach dem möglichen Boykott oder gar Rauswurf Russlands aus dem Wettbewerb in diesem Jahr, hat die EBU beantwortet, bevor sie gestellt wurde. Die russische Delegation ist in Kopenhagen eingetroffen. Die Zwillinge proben fleißig für ihren Auftritt am 6. Mai. An diesem Tag werden sie für die Teilnahme am Finale, am 10. Mai kämpfen. Sie werden auf einer großen Wippe singen. Ein schwieriger Balanceakt nicht nur im direkten Sinne des Wortes.
Bei den ersten Begegnungen mit Journalisten in Kopenhagen haben Vertreter der russischen Delegation Fragen über einen möglichen Zusammenhang zwischen der Ereignissen in der Ostukraine und dem Empfang von Tolmatschevys-Schwester beim ESC mit dem Hinweis abgewehrt, wir seien hier bei einem Musikwettbewerb und nicht in einer politischen Show.
Aber zu Erinnerung: Der ESC findet nicht in einem luftleeren Raum statt. "Der osteuropäische, besser: (post-)sowjetische Konflikt trifft auf eine Stimmung, etwa in der Bundesrepublik, die von manchen Kommentatoren als 'Putin-Versteherei' missdeutet wird. Insofern ist ohnehin nicht garantiert, dass etwa der russische Beitrag dem Regime Wladimir Putins negativ zugerechnet wird", prophezeit gegenüber der DW der ESC-Kenner Jan Feddersen.
Solidarität mit der Ukraine?
Das bedeutet aber nicht, dass die Ukraine mit der Solidarität anderer europäischer Länder rechnen kann. Feddersen weist auf Folgendes hin: "Wer den ESC schaut, hört nicht politisch, sondern eben in den Kategorien des Pop: Was gefällt? Was ist einem sympathisch? Was reißt musikalisch mit?"
Außerdem erinnert der deutsche Experte daran, dass die 21-jährige Mariya Yaremchuk ziemlich lange zu dem gestürzten ukrainischen Präsidenten Viktor Janukowitsch und seiner Partei hielt. Erst als es in Kiew die ersten Opfer durch Gewalttaten gab, spendete sie selbst Blut auf dem Maidan-Platz. Den Journalisten in Kopenhagen sagte Mariya, sie sei sich der Verantwortung bewusst, die Ukraine in diesem Jahr zu repräsentieren.
Schwache Lieder, gute Show
Wie auch immer. Die beiden Lieder - sowohl der russische, als auch der ukrainische Beitrag - sind diesmal schwach. Darüber sind die meisten deutschen ESC-Kenner einig. Dieses Manko wird durch spektakuläre Showelemente kaschiert und vielleicht beiden Ländern beim Abschneiden helfen. Die Russinnen singen auf einer Wippe, die zu einem Segelschiff wird. Ein sportlicher Tänzer in einem Rhönrad auf der Bühne unterstützt die hübsche ukrainische Brünette.
Musikalisch fand Peter Urban, der langjährige deutsche Kommentator des ESC, das russische Lied "Shine" langweilig. Er und Jan Feddersen sind überzeigt, an einem möglichen Misserfolg Russlands beim Eurovision Song Contest in Kopenhagen werde nicht die Ukraine-Krise schuld sein, sondern die Qualität des Beitrags.
Sollten die Mädchen gut singen, seien sie - nach Meinung von Matthias Braitinger - "der falsche Adressat für Buhrufe, wenn diese sich gegen die Machthaber in Moskau richten sollen." Und Russland? "Russland muss Teil der eurovisionären Community bleiben, auch wenn einem das Regime nicht behagt. In Russland nämlich, wie in Weißrussland oder Moldawien, leben sehr viele Menschen, für die auch der ESC ein Kontakt zum freiheitlichen Europa bedeutet", fast Jan Feddersen zusammen.