Bamakos Chronist
2. Dezember 2009Wer als ungeduldiger Reporter bei Malick Sidibé vorbeischaut, wird bald alle journalistische Unruhe über Bord werfen. Der Fotograf von Bamako strahlt Ruhe und Gelassenheit aus, sein Studio ist eine Oase der melancholischen Nostalgie. Gerade heute, am Sonntag. Malick trägt seinen besten hellblauen Boubou, seine kleine Enkelin schenkt ihm warme Milch nach. Es sind die alten Zeiten, die Malick faszinieren – die sechziger Jahre, als Aufbruchstimmung in der Luft lag, als alles noch jung war – das unabhängige Mali, er selbst, und mit ihm seine Freunde. Noch heute besuchen sie ihn, jeden Tag sitzen sie mit ihm vor dem kleinen Fotostudio unter dem Schild "Studio Malick" in Bamako und schauen alte Abzüge an. Der Fotograf hat immer Menschen um sich herum, Menschen, die ihren Blick genauso gern wie er in die Vergangenheit richten.
Camera Obscura
"Das ist mein Studio, seit 1960. Nichts hat sich verändert". Malick lächelt und lädt mich zum Rundgang durch seine winzigen Arbeitsräume ein. "Ich habe nichts weggeworfen, alles ist noch da – die Abzüge, die Kameras, alles. Es gibt ein Fotolabor für die Porträts, der Verschlag, in dem wir die Bilder entwickeln, eine Empfangsecke für die Kunden…das ist alles." Weiterhin arbeitet der inzwischen 74-Jährige als Fotograf. An den blau gestrichenen Wänden bröckelt der Putz, überall liegen alte Schwarz-Weiß-Fotos, unzählige alte und verstaubte Spiegelreflexkameras füllen das Regal gegenüber dem Eingang. Malick selbst hält sein Lieblingsstück in Händen, eine Rolleiflex, Baujahr 1959. Es ist, als sei im Studio Sidibé die Zeit stehen geblieben, als wollten dieser Raum und sein Besitzer dem Wandel trotzen. "Das Studio erzählt viele Geschichten aus Mali, und das schon seit mehr als vierzig Jahren", krächzt Malick mit einer rauchigen Stimme,der man das Dauerlächeln anhört. "Ich habe überall fotografiert, und so viele Menschen haben sich hier porträtieren lassen. Politik, Sport, … ich habe alles auf Fotopapier festgehalten. Also, das hier ist ein geschichtsträchtiger Ort!"
Hüter des verlorenen Schatzes
Direkt neben den Kameras: das Herzstück dieses verwunschenen Ortes – ein mannshohes Holzregal mit hunderten gelben Pappkartons - das Archiv eines großen Fotografen. Malick hat alles aufgehoben: die Hochzeitsporträts, die wilden Parties, die Naturaufnahmen. Es ist, als entdecke der Besucher einen ungeahnten kulturellen Schatz, eine fotografische Bibliothek von Bamako. "Ich fürchte, dass die Regierung das nicht versteht, sonst hätten sie mir schon unter die Arme gegriffen, um eine anständige Archivierung zu finanzieren", klagt Malick. "Weißt Du, die malischen Künstler sind in aller Welt berühmt, aber nicht bei uns zu Hause."
Alltagsleben als Ereignis
Die Fotos, die Malick Sidibé auf Partys und in Tanzlokalen, aber auch in Armenvierteln und auf den Straßen von Bamako gemacht hat, sind von einer Intensität, der man sich nicht entziehen kann: Eine Gruppe Jugendlicher, die am Samstagabend vor einem Club wartet; ein Paar, das ausgelassen den "Mali-Twist" tanzt; eine von den Lichtblitzen eines Stroboskops beleuchtete Disko, deren Besucher traditionelle und europäische Kleidung im wilden Mix durcheinander tragen und fröhlich feiern. Man kann beim Betrachten die Funk-Musik hören, den Mali Blues, die schrillen Schreie des Entzückens und das Klacken der Absätze auf dem Tanzboden. Malick bekommt feuchte Augen. "Oh, ja. Ich habe in Bamako alle Clubs gesehen. Wir hatten hier mehr als achtzig! Das waren wunderbare Zeiten. Aber die Jugend heute – da hat sich doch einiges verändert. In den Sechzigern hatten die jungen Leute weniger Sorgen, das Leben war einfach leichter und alle konnten sich amüsieren. Es war das Goldene Zeitalter. Die Kleidung, die Musik. Und eins ist für mich ganz wichtig: Das Ganze hat schon vor der Unabhängigkeit angefangen!"
Malis ungewisse Zukunft als Herausforderung der Kunst
Malick kann und will nichts gegen das Alter tun, und auch dem stillen wirtschaftlichen Niedergang seines Landes seit der Unabhängigkeit von Frankreich muss er hilflos zusehen. Militärputsche, Bürgerkriege mit den Tuareg und Jahrzehnte der Misswirtschaft haben mit dazu beigetragen, dass Mali heute ein armes Entwicklungsland der Sahel-Zone ist und einen der letzten Plätze in die Gruppe der am wenigsten entwickelten Länder belegt. Die Kindersterblichkeit ist noch immer hoch, eine Gesundheitsversorgung weitgehend nicht vorhanden, mehr als zwei Drittel der Jugend kann weder lesen noch schreiben. Doch Malick Sidibé nimmt den Wandel stoisch hin. Als Fotograf hat er sich schließlich der Realität verschrieben. "Das ist wie bei einem Schriftsteller", erklärt er. "Die Welt ist da, und sie verändert sich, und es gibt immer genug zu sehen. Und so lange es Menschen gibt und Ereignisse, wird es immer etwas geben, was man als Fotografie fixieren kann. Das macht die Fotografie so unglaublich interessant für mich. Alles, was man im Herzen hat oder was man sieht, was einem gefällt oder nicht gefällt, kann man ablichten und dadurch ausdrücken. Das ist faszinierend. Es gibt sogar Fotos, die sprechen können."
Bilder sind die bessere Wahrheit
Mit Fotos dieser Qualität ist der kleine, freundliche und bescheidene Mann zu einem internationalen Star der Kunstszene avanciert. Vergleiche mit dem großen Dokumentaristen Henri Cartier-Bresson schmeicheln ihm, aber er kann wenig damit anfangen. Preise ließen allerdings nicht auf sich warten, zuletzt bekam Malick Sidibé 2007 den Goldenen Löwen bei der Biennale in Venedig. Durch sein Objektiv hat er gesehen, wie das Leben in Mali mit den Jahren immer härter und schwieriger geworden ist. Seine Kunden klagten über Arbeitslosigkeit, Korruption, Kriminalität. Das Geld und der Mangel bestimmten bald den Alltag. Umso mehr Bedeutung misst der Fotograf aus Bamako seiner Mission als Chronist zu: "Es war sehr wichtig für uns, gerade hier in Afrika, dass es irgendwann Bilder gab. Denn die sind - oder waren – noch viel wahrhaftiger als die Schrift. Das Bild ist Wahrheit – und ich meine das klassische Bild, nicht diese Bilder von heute, die uns eine andere Wahrheit vorgaukeln, das klassische Bild ist eine Momentaufnahme, aus der die Wahrheit spricht und die eine Geschichte erzählt."
Interpretierte Realität - Vergangenheit als Heilmittel
Was den technischen Fortschritt der Digitalfotografie angeht, ist Malick skeptisch. Es ist wie beim Wandel seines Landes – er nimmt ihn als leidenschaftlicher Realist zur Kenntnis, aber sieht auch die Schattenseiten. Mit dem "digitalen Kram" hat er sich noch nicht beschäftigt, denn er fürchtet, dass dadurch die klassische Fotografie eines Tages verschwinden wird, und damit auch seine Kunst, die "Realität" in einer unverfälschten Momentaufnahme zu interpretieren. "Also, arbeiten werde ich damit nicht, höchstens etwas herumspielen vielleicht, aber ich finde, das Digitale kann man nicht fühlen, es hat mit den Silberbromid-Abzügen nichts zu tun."
Mit der heutigen Politik seines Landes und der zum großen Teil verzweifelten Jugend verbindet Malick Sidibé nicht viel. Hätte er geahnt, wie Mali sich entwickeln würde, hätte er gerne die Zeit angehalten. "Wir haben uns damals besser angezogen, mit Krawatten, mit gutem Tuch, wir haben Wert gelegt auf Manieren, auf Stil! Die jungen Menschen heute identifizieren sich nicht mehr mit ihrem Land – aber ich kann es ihnen auch nicht verdenken."
Der Chronist ist aus der Zeit gefallen.Und so sucht Malick Sidibé weiter Zuversicht in der Vergangenheit. Mit seinen Bildern von damals ist er zum Garant der ewigen Jugend derer geworden, die mit ihm alt geworden sind und heute im Schatten vor seinem Studio sitzen. Sein Fotopapier wird zur Urkunde, zu einer auf Silberbromid fixierten Beschwörung einer besseren, einer glücklicheren Zeit in Mali.
Autor: Alexander Göbel
Redaktion Christine Harjes