Der brasilianische Blitz
10. September 2016Eigentlich sollte in Rios Leichtathletik-Stadion am Freitag Abend der Blitz einschlagen: Terezinha Aparecida Guilhermina wollte es ihrem Idol, dem jamaikanischen Superstar Usain Bolt, gleichtun und wie schon 2012 in London wieder die Goldmedaille über die 100 Meter holen. Doch stattdessen gab es ein Donnerwetter.
Schimpfend zog die Brasilianerin vom Platz. "Das ist ungerecht" regte sie sich auf. "Ich bin hier angetreten, um gegen Frauen zu laufen, nicht gegen Männer!" Den Sieg der Britin Libby Clegg hält sie für unrechtmäßig, so ist wohl ihre Anspielung zu deuten: In den Vorausscheidungen war diese zunächst disqualifiziert worden, weil sie angeblich von ihrem Blinden-Begleiter mitgezogen worden war. Dem Einspruch des Britischen Paralympischen Komitees aber wurde stattgegeben und somit durfte die 26-Jährige doch im Finale starten. Terezinha war außer sich! Zu dem Zeitpunkt wusste sie noch nicht, dass sie selbst wegen des gleichen Vorwurfs disqualifiziert werden würde…
Paralympischer Superstar
Dabei sollte sie doch ganz oben auf dem Podium stehen. Auf diesen Moment hatten die brasilianischen Medien das Publikum schon seit Wochen eingestimmt. In zahlreichen Reportagen wurde über die schnellste Blinde der Welt berichtet und auch in den Werbeclips für die Paralympischen Spiele, die im Fernsehen und in den öffentlichen Nahverkehrsmitteln in Dauerschleife laufen, ist sie ganz vorne mit dabei. Sechs Medaillen, davon drei goldene, bei insgesamt drei Paralympischen Spielen sprechen für sich.
Eine goldene Zukunft hätte ihr wohl einst kaum einer vorausgesagt: Terezinha Aparecida Guilhermina wurde als zehntes von zwölf Kindern einer armen Familie geboren. Eine vererbte Augenkrankheit zerstörte nach und nach ihre Netzhaut - bis sie schließlich im Alter von 30 Jahren vollständig erblindete. Vier Geschwistern erging es ähnlich. Gemeinsam entdeckten sie den Behindertensport und motivierten sich gegenseitig. Terezinha begann ihre sportliche Karriere zunächst als Schwimmerin, obwohl sie eigentlich gerne gelaufen wäre. Turnschuhe waren für sie jedoch ein unerreichbarer Luxus.
Jugend ohne Turnschuhe
Als sie mit 22 Jahren ihr erstes Paar geschenkt bekam, war sie nicht mehr aufzuhalten: Zwölf Medaillen bei Weltmeisterschaften hat sie sich seither erlaufen - acht goldene und vier silberne. Von ihrem ersten Preisgeld bei einem Straßenrennen, umgerechnet rund 25 Euro, erfüllte sie sich einen Kindheitstraum: Sie kaufte etwas, wofür in ihrer Familie nie Geld da war: Joghurt. "Ich habe mich wie eine Millionärin gefühlt! Ich hatte noch nie so viel Geld in der Hand. Von diesem Moment an habe ich verstanden, dass mir der Sport all meine Wünsche erfüllen wird", erinnert sie sich. Die brasilianischen Medien lieben diese Geschichte.
Genau wie Terezinhas Erscheinungsbild, mit dem sie neben ihren sportlichen Erfolgen für Aufsehen sorgt: Haare, Outfit, Make-up - alles auffällig und bunt, vor allem ihre glitzernden Augenbinden. "Ich möchte, dass die Leute mich farbenfroh erleben, weil meine Welt bunt ist. Ich suche die Farben und Modelle der Augenbinden alle selbst aus, und meine Schwester näht sie dann. Vor jedem Lauf entscheide ich mich für ein Modell, das meinen Gefühlen an diesem Tag entspricht."
Markenzeichen: extravagante Augenbinden
Für ihr 100-Meter-Debüt bei den Paralympics in Rio hatte sie eine Augenbinde mit Regenschirmen ausgewählt. "Das soll bedeuten, dass ich für alles bereit bin: für Regen und für Sonne", verkündete sie im Vorfeld. Offenbar kein gutes Omen. Sportliche Schlechtwetterlage sozusagen. Schon im Halbfinale verlor sie ihren Weltrekord an Libby Clegg. Die Britin unterbot die 12,01 Sekunden der Brasilianerin um satte 10 Hundertstel und lief 11,91. Im Finale kam Terezinha dann als enttäuschte Letzte ins Ziel und wurde sogar disqualifiziert, weil ihr Begleiter sie angeblich mitgezogen hätte.
Die Sprinterin kann die Ungerechtigkeit kaum fassen. Vor der Presse verteidigt sie sich aufgebracht gegen die aus ihrer Sicht haltlosen Vorwürfe. So oder so: Sie konnte bei diesem Wettkampf einfach nicht mithalten, die anderen waren schlichtweg schneller. Und jünger. Mit ihren 37 Jahren war die Brasilianerin mit Abstand die Älteste. Die einheimischen Medien sprechen von einer Ära, die jetzt vielleicht langsam zu Ende geht: Seit mehr als 15 Jahren verleiht Terezinha dem paralympischen Sport in ihrer Heimat Strahlkraft.
Prominenter Begleiter
Selbst der "jamaikanische Blitz" höchstpersönlich zollte ihr kürzlich Anerkennung: Zur Eröffnung der Paralympischen Spiele twitterte Usain Bolt ein Foto von sich mit Terezinha und grüßte damit alle paralympischen Athleten von Rio 2016. Vor einem Jahr hatten sich beide bei einem Sport-Event kennengelernt. Im Rahmen einer Marketing-Aktion hatte der Jamaikaner die Brasilianerin beim Sprint begleitet - 50 Meter mit aneinandergebundenen Händen: "Damit hat sich für mich ein Traum erfüllt! Der schnellste Mann der Welt zusammen mit mir als schnellster blinder Athletin. Das hat mich total motiviert!"
In drei Disziplinen wird Terezinha während der Paralympischen Spiele in ihrer Schadensklasse T11 für vollständig Blinde noch an den Start gehen: Über die 200, die 400 Meter und 4x400-Meter-Staffel. In ihrer paralympischen Königsdisziplin, dem 200-Meter-Lauf, hatte sie in Peking wie auch in London Gold geholt. Über 400 Meter ist sie aktuelle Weltrekordhalterin. Jetzt will sie sich keine Medaille mehr entgehen lassen. 20 glitzernde Augenbinden liegen schon für die Wettkämpfe parat. Die Auswahl der Motive könnte entscheidend sein. Statt mit Regensymbolen, sollte sie vielleicht mit dem erfolgversprechenden Blitz ins Rennen gehen…