Der brasilianische Belgier
11. Juli 2018Er tippelt nervös mit den Füßen unter dem Sitz. Klar, ist schließlich aufregend, so ein WM-Halbfinale. Für Belgien ist es erst das zweite überhaupt, das letzte ist mehr als 30 Jahre her. Nichts deutet darauf hin, dass dieser dunkelhaarige Mann in seinem Belgien-Trikot eigentlich ein Chamäleon ist. Bis er plötzlich sein rotes Jersey bis zur Brust hochkrempelt, und darunter das blaue Auswärtstrikot der "Selecao” aufleuchtet.
Humberto ist eigentlich Brasilianer, gesteht er. Er hat sich nur perfekt an seine Umgebung angepasst. Schließlich spielen hier im Stadion von Sankt Petersburg gerade Belgien und Frankreich im WM-Halbfinale. Humberto hatte auf die Brasilianer gesetzt, doch die sind eine Runde zuvor im Viertelfinale gegen Belgien ausgeschieden (1:2). "Verdient. Wir waren nicht in Topform”, sagt Humberto. Eigentlich hatte er seinen Landsleuten das Finale zugetraut, auch dafür hat er Karten. Doch Neymar & Co. haben ihn im Stich gelassen. Jetzt sitzt er hier auf der Tribüne in Sankt Petersburg und schaut zwei fremden Mannschaften zu - in einem fremden Trikot. Dumm gelaufen.
Eine Odyssee über 36 Stunden
Mehr als 2.000 Euro hat Humberto alleine für die WM-Tickets ausgegeben. Hinzu kommen noch Flüge und Übernachtungen. Rio, Rom, Moskau, Sankt Petersburg - alleine die Anreise zu diesem Halbfinale gleicht einer Odyssee. "Mehr als 36 Stunden hat alles gedauert”, erzählt Humberto. Und, das macht ihn so sympathisch, er kann immer noch dabei lachen.
Humberto ist längst kein Einzelfall bei dieser WM. Bereits Stunden vor Anpfiff des ersten Halbfinals in Sankt Petersburg sind immer wieder auffällig gelbe und hellblaue Flecken in der bunten Masse der ankommenden Fans zu entdecken. Nicht nur belgische und französische Fans pilgern zum Stadion, auch viele Brasilianer und Argentinier. Manchmal werden sie aufgemuntert, häufig aber auch verspottet. Sie nehmen es mit Galgenhumor, oder sie ertränken den Frust in reichlich Alkohol. Selbst das Grün der Mexikaner ist hier und da zu erkennen. Kühnste Optimisten, offensichtlich sind auch sie von einem Halbfinal-Einzug ausgegangen. Doch anders als Humberto tragen sie ihre Nationalität offen zur Schau, mit ihren Trikots und in Fahnen gehüllt. Aus Verbundenheit. Aus gekränktem Stolz. Und natürlich aus Trotz.
Die FIFA verdient mit
Humberto hat sich Belgien ausgeguckt, obwohl die "Roten Teufel" Brasilien besiegt haben. Aber er drückt jetzt Belgien die Daumen, dass sie Weltmeister werden. "Sie sind uns Brasilianern am ähnlichsten”, sagt er. Hazard zum Beispiel, die Nummer zehn, ein toller Spieler. Besser als Neymar sei er zurzeit drauf, dessen theatralische Einlagen waren auch Humberto zu viel. "Lächerlich”, sagt er und in seinem Tonfall schwingt die ganze Enttäuschung über Brasiliens Ausscheiden mit. Kurz darauf fällt das 0:1. Frankreichs Umtiti trifft nach einer Ecke, und Belgien liegt hinten. Humberto erträgt es stoisch. Belgien ist dann doch nicht Brasilien.
Seine erworbenen Tickets weiterzuverkaufen und die Reise kurzfristig abzubrechen, kam für Humberto nicht in Frage. "Ich hatte schon alles gebucht”, erklärt er. Ohnehin wird der Weiterverkauf seit Jahren erschwert. Die FIFA hat die Fan-ID eingeführt, auch um gegen den Schwarzmarkt vorzugehen. Bevor man überhaupt ein Ticket erwerben kann, muss man sich mit seinen persönlichen Daten bei der FIFA registrieren lassen. Ohne Fan-ID kein Stadion-Besuch. Und beim offiziellen Weiterverkauf über das FIFA-Portal im Internet verdient der Verband mit. Fans können ihre Tickets "einreichen”, wie es heißt, aber bekommen nur 90 Prozent des Kaufpreises zurück. Und ein Weiterverkauf ist nicht garantiert.
Wo ist die Stimmung?
Auch die Atmosphäre in den Stadien leidet darunter. Die Stimmung auf den Rängen in Sankt Petersburg spiegelt längst nicht das attraktive und durchaus spannende Spiel wider. Nur wenige Frankreich-Fans stimmen Gesänge an, es ist ein ziemlich überschaubarer Block von wenigen hundert Leuten hinter dem Tor. Die Belgier gehen ganz unter. Zu viele neutrale Zuschauer verderben die Stimmung.
Es ist dann doch etwas anderes, wenn die vielen Brasilianer ihre "Selecao” anfeuern können. Als sich einige wenige dann doch mal aufraffen und mit ihren "Brasil, Brasil"-Schlachtrufen sogleich im Stadionrund zu hören sind, muss auch Humberto schmunzeln. Er reckt den Hals in Richtung Kurve. Ein anerkennendes Nicken.
Den Belgiern hilft das wenig, das Spiel geht0:1 verloren. Beim Schlusspfiff knirscht Humberto mit den Zähnen. Und jetzt? Auch sein zweites Team Belgien ist ausgeschieden. "Vielleicht versuche ich es jetzt mit England”, sagt Humberto und lacht herzhaft. Ein letztes Selfie, und das Chamäleon zieht davon.