Frauenpower im Himalaya
14. November 2017Als Thinlas Chorol zum ersten Mal Touristen durch den Himalaya führte, fragten einheimische Bauern, aus welchem Land sie denn komme. Ob sie selbst Touristin sei? So unvorstellbar schien es ihnen, dass eine Frau aus der Region als Bergführerin arbeitet. Heute lacht Chorol bei der Erinnerung daran. Seit 2009 leitet sie in der Bergsteiger-Hauptstadt Leh ihre eigene Trekking-Agentur und hat 30 Arbeitsplätze geschaffen - ausschließlich für Frauen. "Ich will Frauen in Ladakh zum Arbeiten ermutigen. Sie sollen die gleichen Möglichkeiten haben wie Männer", meint Chorol.Zwar gehe es Frauen in der Region nahe dem Kaschmir Tal tendenziell besser als woanders in Indien. "Man freut sich hier über Töchter genauso wie über Söhne", sagt sie. Die Arbeitsteilung ist dennoch traditionell: Männer arbeiten beim Militär oder im Tourismus. Frauen kochen, putzen, waschen, kümmern sich um die Kinder. Frauen führen Frauen
Chorol wuchs auf einem Bauernhof auf, nur 15 Kilometer westlich von Leh. Hier auf dem Land mitten im Himalaya gehört Bergsteigen zum Alltag. Als Mädchen half Chorol beim Bewässern der Felder, hütete Ziegen und führte sie zum Grasen auf Almen. Sie liebte die Ruhe und den Frieden in den Bergen. Erst zum Studium zog Chorol aus dem Dorf nach Leh. Viele ihrer männlichen Kommilitonen arbeiteten im Sommer als Bergführer. Auch Chorol bewarb sich, doch mehrere Agenturen wiesen sie ab. Zu anstrengend sei die Arbeit, und überhaupt: Als Frau könne sie keine Gruppe anführen, so die Begründung.
Aber Chorol sammelte auf eigene Faust Erfahrung, zeigte Studenten und Touristen ihre Heimat. Eine Kundin erzählte ihr, dass sie eine Wanderung habe abbrechen müssen, weil sie von ihrem männlichen Bergführer bedrängt worden sei. Sexueller Missbrauch ist keine Seltenheit in Indien; nahezu täglich berichten die Medien von Vergewaltigungen. Chorol verstand, dass vor allem allein reisende Frauen lieber eine Bergführerin buchen - eine noch freie Nische im Tourismus-Geschäft in Ladakh. Sie fasste Mut, lieh sich von ihrem Vater ein paar Tausend Rupien und gründete ihre eigene Firma: die "Ladakhi Womens Travel Company".
Unabhängigkeit durch Qualifizierung
Heute beschäftigt sie 15 Bergführerinnen und 15 Trägerinnen, hat verschiedene Touren im Angebot - von sogenannten Baby-Trecks bis hin zu technisch anspruchsvollen Routen auf über 5000 Höhenmetern. Jährlich führt ihre Firma etwa 100 Touren durch. Männliche Touristen dürfen nur in Begleitung ihrer Frauen mitwandern.Wer Bergführerin werden will, beginnt die Ausbildung als Trägerin. Vor Beginn der Saison lädt Chorol zu Bewerbungsgesprächen ein, sucht Frauen, die körperlich fit sind. Denn während der mehrtägigen Wanderungen müssen die Trägerinnen bis zu zehn Kilogramm schwere Rucksäcke der Touristen schleppen. Außerdem bekommen die Anwärterinnen Grundwissen über Buddhismus und die Klosterkultur in Ladakh mit auf den Weg, studieren Flora und Fauna des westlichen Himalaya und lernen, was zu tun ist, wenn Touristen an Höhenkrankheit leiden. Wer gut genug Englisch spricht, kann im zweiten Jahr als Trainee-Guide arbeiten.
"Es ist eine kleine Revolution"
In der dritten Saison sind die Frauen dann voll ausgebildet - wie etwa Angmo Tsetan. Die 26-jährige Politikstudentin liebt ihren Job als Bergführerin, den Kontakt zu den Touristen, die Verantwortung. Die Route kennt sie auswendig. Im Vorbeigehen pflückt Tsetan wilden Sanddorn - ein erfrischender Snack für die Wanderer. Nebenbei bleibt genug Zeit für ein Gespräch über ihren kleinen Bruder, der als Mönch im Kloster lebt, und ihre Schwester, die ihren Ehemann erst am Tag der arrangierten Hochzeit kennengelernt hat.
Der Job als Bergführerin macht Tsetan wirtschaftlich unabhängig. Sie verdient genug Geld, um im Winter ihr Masterstudium abschließen zu können, und ist nicht auf einen Mann angewiesen. Vielleicht kann sie sogar irgendwann ihre Eltern überzeugen, einer Liebesheirat zuzustimmen. "Eine arrangierte Ehe kann ich mir für mich nicht vorstellen", sagt sie.Abends führt Tsetan ihre Wandergruppe ins Tal. Man übernachtet in Homestays, also in Gästezimmern der Dorfbewohner. Mal primitiv mit durchgelegenen Matratzen auf dem Boden und Plumpsklo im Garten, mal gehobener mit richtigen Betten und westlichem Badezimmer. Auch die Gastgeberinnen sind froh über die Bergführerinnen, fühlen sich wohler, wenn andere Frauen im Haus sind. "Es ist eine kleine Revolution", meint Thinlas Chorol. Inzwischen buchen sogar andere Agenturen bei ihr weibliche Bergführer. Denn die sind mittlerweile in den Tälern Ladakhs bekannt.
Karen Bauer (dpa)