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PolitikAsien

Ausharren vs. Ausfliegen: Zwei Schicksale aus Kabul

Esther Felden
26. August 2021

Farhad will unbedingt raus aus Afghanistan - nach Deutschland. Abdul Ghafoor hat genau das geschafft. Dabei wollte er eigentlich in Kabul bleiben.

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Menschenmassen vor dem Eingang zum militärischen Terminal am Flughafen Kabul
Nur für wenige der Wartenden vor dem militärischen Terminal des Flughafens öffnen sich die Tore – tausende Menschen warten umsonstBild: Wakil Kohsar/AFP

Wenn Schüsse zu hören sind, greift Farhad zu einer Notlüge. Dann nimmt er seinen dreijährigen Sohn fest in den Arm und erzählt ihm, dass in der Nähe gerade eine Hochzeit gefeiert wird. "Fröhliches Schießen" sei das, Schüsse in die Luft, zu Ehren des Brautpaares. Eine afghanische Tradition. "Mein Sohn versteht noch nicht, was gerade passiert in seinem Land. Er hat einfach große Angst vor den lauten Knallgeräuschen." Er könne dem Kind nicht erklären, was seit der Machtübernahme der Taliban in Kabul passiert, berichtet Farhad.

Farhad heißt eigentlich anders, sein richtiger Name ist der DW bekannt, seit mehreren Jahren besteht der Kontakt zu ihm. Jetzt schreibt er täglich im Facebook-Chat, wie es ihm geht. Er ist einer von mehr als 1000 Afghanen, die nach Angaben des Bundesinnenministeriums seit Ende 2016 aus Deutschland in ihre Heimat abgeschoben wurden. Bei seiner Flucht war er noch minderjährig. Er kam allein, beide Eltern sind tot. Straffällig wurde er in Deutschland nicht. Damit hat das Bundesinnenministerium in der Vergangenheit Abschiebungen immer wieder begründet. Doch sein Asylantrag wurde abgelehnt, trotz verzweifelter Unterstützungsversuche von deutschen Freunden.

Innenaufnahme aus einem deutschen Abschiebeflugzeug: jeder Afghane wird von Sicherheitskräften begleitet
Anfang Juli fand der bislang letzte Rückführungsflug nach Afghanistan statt – ein für den 5. August geplanter Flug wurde kurzfristig abgesagt aufgrund der SicherheitslageBild: picture-alliance/dpa/M. Kappeler

Umstrittene Abschiebepraxis

Genau wie Farhad bemühen sich jedes Jahr zigtausende Afghanen vergeblich um einen Aufenthaltstitel in Deutschland. Knapp 7000 Asyl-Entscheidungen fielen allein zwischen Januar und Ende Juli dieses Jahres. In 60 Prozent der Fälle wurden die Anträge der afghanischen Schutzsuchenden abgelehnt - trotz der sich immer weiter zuspitzenden Sicherheitslage im Land. Und erst am 11. August - nur vier Tage vor dem Einmarsch der Taliban in Kabul - setzte das Bundesinnenministerium die ohnehin umstrittenen Abschiebungen nach Afghanistan zunächst aus. 

Trotz anhaltender Kritik unter anderem von Menschenrechtsorganisationen hatte die Bundesregierung lange an ihrem Standpunkt festgehalten, Afghanistan sei sicher genug, um weiter Menschen dorthin abzuschieben. Derzeit leben noch rund 30.000 ausreisepflichtige Afghanen in Deutschland.

Auf dem Radar der Taliban

Was Farhad schreibt, klingt bitter. Schon damals fühlte er sich von Deutschland im Stich gelassen. Jetzt wieder. Jemand wie er, der bereits einmal abgeschoben wurde, hatte keine realistische Chance, im Rahmen der deutschen Luftbrücke ausgeflogen zu werden. Er ist verzweifelt. "Wenn die Taliban herausfinden, dass ich in Deutschland gelebt habe, bringen sie mich um", glaubt er.

Abdul Ghafoor im Büro vor seinem Laptop
"Ich habe seit gestern so viel geweint. Was ist da nur über Nacht passiert?" - Facebook-Post von Ghafoor vom 17. AugustBild: Privat

Tatsächlich sind abgeschobene Rückkehrer wie Farhad seit der Machtübernahme der Taliban mehr in Gefahr als andere, bestätigt Abdul Ghafoor. "Ich habe viele Rückkehrer getroffen, die sichtbare Tätowierungen an Hals oder Händen hatten. Für die Taliban ist das ein absolutes No-Go." Einige würden auch nicht mehr beten. Menschen, die teils jahrelang im Westen gelebt haben, stellten allein durch diese Erfahrung und ihren geänderten Lebensstil in den Augen der Taliban eine Bedrohung dar, erklärt Ghafoor.

Ghafoor spricht aus eigener Erfahrung. Er flüchtete selbst nach Europa, wurde 2013 von Norwegen ausgewiesen und zurück nach Afghanistan abgeschoben. Nach seiner Rückkehr gründete er eine NGO, um anderen abgeschobenen Rückkehrern und auch Binnenflüchtlingen zu helfen, wieder Fuß zu fassen: die "Afghanistan Migrants Advice and Support Organization", kurz AMASO. Die Rückkehrer hätten in Afghanistan einen schweren Stand, würden gesellschaftlich und selbst von ihren Familien oft ausgegrenzt. Ihnen hafte ein regelrechtes Stigma an, unabhängig davon, dass längst nicht jeder der Abgeschobenen in Deutschland gegen Gesetze verstoßen habe. "In der Bevölkerung herrscht die Meinung vor, dass diese Personen etwas falsch gemacht haben müssen und deshalb ausgewiesen wurden."

Aus Deutschland abgeschobene Asylbewerber nach ihrer Ankunft in Kabul
In diesem Jahr gab es nach Regierungsangaben noch sechs Rückführungsflüge, insgesamt 167 Menschen wurden nach Afghanistan abgeschobenBild: picture-alliance/dpa/M. Jawad

In Hamburg in Sicherheit

Seine Arbeit für abgeschobene Flüchtlinge machte Ghafoor bekannt, weit über die Grenzen von Kabul hinaus. Doch sie war für ihn auch gefährlich. Schon länger hätten Familie und Freunde ihn deshalb bedrängt, Afghanistan wieder zu verlassen. "Ich habe immer wieder Drohungen erhalten. Aber damit konnte ich umgehen." Lange habe er sich gesträubt, zu gehen. Als aber die Taliban in Kabul einmarschierten, sah er für sich keine Wahl. In Windeseile vernichtete er in seinem Büro sämtliche Unterlagen, die Namen und Adressen beinhalteten.  

 Die Taliban sollten auf keinen Fall erfahren, wen er alles beraten hatte in den vergangenen Jahren. "Ich hatte mit einigen sehr sensiblen Fällen zu tun, darunter konvertierte Christen oder Atheisten. Ich wollte kein Menschenleben in Gefahr bringen." Auch sein eigenes Leben war jetzt in akuter Gefahr, davon ist Ghafoor überzeugt. "Ich mache mir keine Illusionen darüber, dass sie mich verschont hätten."

Seit ein paar Tagen ist Abdul Ghafoor in Sicherheit, fast 7000 Kilometer entfernt von Kabul, in Hamburg. Aufgrund seiner exponierten Position und seiner Bekanntheit landete sein Name schnell auf einer der begehrten Passagierlisten. Tatsächlich war er einer der nur sieben Passagiere, die am 17. August mit dem ersten Evakuierungsflug der Bundeswehr gerettet wurden. Er saß in einem gähnend leeren Flugzeug, übermannt von seinen eigenen Gefühlen. "Ich bin immer wieder in Tränen ausgebrochen während des Fluges", erzählt er der DW am Telefon. Jetzt, Tage später, klingt seine Stimme fest, wenn er darüber spricht.

Angst auf der Straße

Während Ghafoor außer Gefahr ist, lebt Farhad weiter in seinem realen Alptraum. Seine Frau hat sich seit dem Einmarsch der Taliban in Kabul gar nicht mehr aus dem Haus getraut, nur er geht noch nach draußen, um die täglichen Besorgungen zu erledigen. Jeden Monat haben ihm bisher deutsche Freunde etwas Geld geschickt, per Western Union. Umgerechnet 20 Euro Bargeld hat er noch. Wie es danach weitergeht, weiß er nicht. Auf die Straße zu gehen beschreibt er als beängstigende Erfahrung. Außer Lebensmittelgeschäften sei fast alles geschlossen. Es seien viel weniger Menschen zu sehen, kaum Kinder, Frauen - wenn überhaupt - nur in Begleitung ihrer Männer. "Und überall Bewaffnete."

Schwer bewaffnete Taliban-Kämpfer an einem Checkpoint in Kabul
Die neue "Polizei" - so erklärt Farhad seinem dreijährigen Sohn die Taliban, damit der Junge keine Angst hatBild: Rahmat Gul/AP Photo/picture alliance

Immer wieder wird er von Taliban-Kämpfern angehalten und ausgefragt. "Wer bist du, wohin gehst du? Was ist dein Beruf? Hast du jemals für die Polizei gearbeitet oder für Ausländer?" Immer die gleichen Fragen. Er sagt dann, er sei unterwegs, um etwas zu essen zu kaufen. Und gibt einen falschen Namen an. "Du musst lügen, um dein Leben zu retten." Nach Ausweis oder anderen Papieren hätten die Taliban ihn bisher nicht gefragt.

Ein paarmal hat Farhad auch seinen Sohn mitgenommen. Das Kind habe geweint, habe unbedingt nach draußen an die frische Luft gewollt. Draußen, wo jetzt die Taliban zum Stadtbild gehören. Um den Jungen nicht zu verängstigen, hat Farhad ihm erklärt, die bewaffneten bärtigen Männer seien so etwas wie die neue Polizei in der Stadt. Noch eine Notlüge. Aber darauf ist er wohl noch länger angewiesen. Farhad glaubt nicht daran, dass es für seine Familie in naher Zukunft ein Entkommen gibt aus Kabul.

Menschen an Bord eines Evakuierungsflugzeugs der Bundeswehr am Flughafen Kabul
Sie haben es in die rettende Maschine geschafft - bis Mittwochabend hatte die Bundeswehr auf 34 Flügen knapp 5200 Menschen ausgeflogenBild: Marc Tessensohn/AP/picture alliance

Sorge um Kollegen

Seit seiner Ankunft in Deutschland ist Ghafoor weiter pausenlos im Einsatz. Täglich erreichen ihn Nachrichten und Hilferufe aus der Heimat, über Social-Media-Kanäle versucht er, Hilfe zu organisieren. Außerdem steht er in Kontakt mit seinen Mitarbeitern, die noch vor Ort sind. Er macht sich Sorgen um sie. "Ich habe noch nichts für sie tun können."

Ober er in Deutschland oder Europa bleiben möchte? Darauf hat Abdul Ghafoor im Moment noch keine Antwort. Er braucht erst einmal Zeit, das Erlebte zu verarbeiten. "Ich kann noch gar nicht begreifen, was alles passiert ist und wie schnell das ging. Im Moment fühle ich mich noch etwas verloren."

Mitarbeit: Nina Werkhäuser