Grass hatte ästhetische Kraft
13. April 2015Deutsche Welle: Herr Scheck, Günter Grass war in Deutschland zuletzt mehr umstritten als gefeiert, warum?
Denis Scheck: Weil die Zahl der Idioten in Deutschland seit der Staatsgründung nicht nachgelassen hat. Nein, bei den halbwegs vernünftig denkenden Menschen, bei den ästhetisch argumentierenden Literaturkritikern war Günter Grass mehr gefeiert als umstritten. Wir müssen uns ja doch, an einem solchen Tag, vor einer literarischen Lebensleistung verneigen, die wirklich nur vergleichbar ist mit der eines Thomas Mann im 20. Jahrhundert. Wir dürfen nicht vergessen, dass der erste Satz der Blechtrommel: "Zugegeben, ich bin Insasse einer Heil- und Pflegeanstalt, mein Pfleger beobachtet mich, lässt mich kaum aus dem Auge; denn in der Tür ist ein Guckloch, und meines Pflegers Auge ist von jenem Braun, welches mich, den Blauäugigen, nicht durchschauen kann." - dass dieser Anfangssatz der Blechtrommel eben so etwas war wie der "Big Bang" für eine wirklich unabhängige deutsche Literatur nach dem Zweiten Weltkrieg. Hier wurde tatsächlich mal Tabula rasa gemacht, ein Neuanfang. Auch ein ästhetischer Neuanfang, der dann zu einer unglaublichen literarischen Blüte führte und diese Blüte ist mit dem Namen Günter Grass verbunden.
Sie haben Thomas Mann als literarische Messlatte genannt. Welchen Rang wird Grass also jetzt einnehmen nach Thomas Mann? Und wo steht Heinrich Böll?
Wenn man diese Werke vergleicht, dann merkt man, dass selbst der frühe Böll, der noch größere ästhetische Sprengkraft hatte, da nicht ganz rankommt. Es ist kein Zufall, dass Günter Grass im Grunde von der deutschen Nachkriegsliteratur, wenn Sie jetzt mal von Celan in der Lyrik absehen, der einzige geblieben ist neben Hermann Hesse, den ich aber jetzt nicht der Literatur der frühen Bundesrepublik zuordnen möchte. Günter Grass ist der einzige geblieben, der insbesondere im Ausland große Wirkung erzielt hat. Er hat viele andere Autoren beeinflusst, denken wir nur an Salman Rushdie.
Günter Grass war ja auch ein großer Einmischer. Der politische Grass war lange ein sehr kritischer Begleiter der deutschen Einheit. Hat er diese abwehrende Haltung gegenüber dem größer gewordenen Deutschland je abgelegt?
Die deutsche Wiedervereinigung war sicherlich kein Ruhmesblatt im politischen Denken von Günter Grass. Was man allerdings von ihm lernen kann, ist eine gewisse Hartnäckigkeit angesichts der Fakten, die gegen ihn sprechen. Aber das ist "Tandaradei" und völlig irrelevant für den Rang eines Schriftstellers. Das interessiert mich so sehr wie die Euro-Skepsis mancher englischer Schriftsteller. Daran einen Günter Grass zu messen wäre sicherlich verkehrt. Einen Günter Grass misst man an einer ästhetischen Messlatte. An seinen Gedichten und seinen Romanen, an seinem literarischen Oeuvre und da ist er ein Titan, ein Riese und irgendwelche politischen Irrtümer sind da vollkommen irrelevant. Worüber wir reden müssen, ist die Danziger Trilogie, das ist wirklich sein Hauptwerk. Ich finde auch, dass es ihm bei den autobiografischen Versuchen in "Die Box" und "Grimms Wörter", gelungen ist über sich zu reden, ohne dabei den Narzissmus, den Autobiografien so an sich haben, zu pflegen.
Wie sehr hat er sich mit seinem späten Bekenntnis, bei der Waffen-SS gewesen zu sein, geschadet?
Daraus wurde eine Medien-Kampagne gemacht. Tatsächlich gab es ja mehrere Aussagen von Grass-Zeitgenossen, wonach er darüber schon in den 50er, 60er Jahren geredet hat, er hat es nur nicht geschrieben. Es war sicherlich unklug, dies so spät literarisch zu verarbeiten. Ich glaube aber, nur diejenigen, die eben so gar nichts aus der Geschichte gelernt haben, die wirklich glauben, dass die braunen Männlein aus den Ufos stiegen, dass die jetzt ein völlig neues Bild von Günter Grass bekommen haben. Es handelt sich um die Mitgliedschaft von einigen Wochen eines unter 18-Jährigen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass jemand, der halbwegs bei Trost ist, deshalb mit Günter Grass bricht.
Welche gesellschaftliche Relevanz hat seine Schriftstellerei heute noch für die jüngeren Menschen? Und bleibt er ein rein zeitbezogener Schriftsteller der Nachkriegs- und Wiederaufbaujahre?
Nein gar nicht. Er ist ein Titan wohlgemerkt, er hat die größte literarische Relevanz, er ist die Messlatte. Es gibt zurzeit keinen arbeitenden deutschen Autor, der an seine Relevanz heran reicht. Seine Relevanz liegt vor allem in den sechziger und siebziger Jahren. Aber der eigentliche Verdienst von Günter Grass besteht darin, dass er durch sein Werk und sein Engagement die Bundesrepublik Deutschland zu einem zivilisierteren und lebenswerteren Ort gemacht hat und dafür müssen wir ihm dankbar sein.
Denis Scheck, 51, ist Literaturkritiker für Hörfunk-, TV- und Printmedien. Er ist Literatur-Redakteur beim Deutschlandfunk und war von 2000 bis 2002 Mitglied der Jury des Ingeborg-Bachmann-Preises in Klagenfurt.
Das Interview führte Volker Wagener