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Den Schmerz der Opfer anerkennen

Nils Naumann15. August 2014

Vertrieben, verschleppt, vergewaltigt: Millionen Menschen wurden Opfer des Bürgerkriegs in Kolumbien. Deswegen sollen jetzt auch Opfervertreter bei den Friedensverhandlungen zwischen Regierung und Guerilla mitreden.

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Vertriebene bei Demonstration in Kolumbien (Foto: dw/Nils Naumann)
Die Opfer des Bürgerkriegs fordern Gerechtigkeit und WiedergutmachungBild: DW/Nils Naumann

Ana María Bidegaín hat gelernt, für sich und ihre Familie zu kämpfen. Als sie 35 Jahre alt war, wurde ihr Ehemann Carlos Horacio Urán getötet. Bidegaín blieb allein mit ihren vier Töchtern zurück: "Damals brach mein Leben in Stücke."

Inzwischen ist Bidegaín 65. Kolumbien hat sie schon lange verlassen. Seit 2005 arbeitet die Historikerin als Professorin an der Universität von Miami in den USA. Doch Ruhe hat sie noch immer nicht gefunden: "Die Umstände, unter denen mein Mann gestorben ist, verfolgen mich bis heute", erklärt Bidegaín im Gespräch mit der Deutschen Welle.

Der Sturm auf den Justizpalast

Carlos Horacio Urán war Richter am Obersten Verwaltungsgericht. Ein gutaussehender junger Mann mit schwarzen Haaren und dunklen Augen. Am 6. November 1985 stürmte die linksgerichtete M-19-Guerilla Uráns Arbeitsplatz, den Justizpalast im Zentrum von Kolumbiens Hauptstadt Bogotá.

Carlos Horacio Urán und Ana Maria Bidegain (Foto: privat)
Ein Bild von Urán und Bidegaín aus glücklichen TagenBild: privat

Die Angreifer nahmen rund 350 Geiseln. Die Regierung lehnte Verhandlungen ab. Panzer der Armee drangen in den Justizpalast ein. Das Gebäude geriet in Brand. Die Bilanz: Fast 100 Tote und viele Verletzte. Elf Menschen verschwanden spurlos.

Danach erklärten die Armee und einer der befreiten Richter, auch Carlos Horacio Urán sei im Kreuzfeuer getötet worden. Dagegen berichtete ein anderer Zeuge, Urán habe den Justizpalast nach dem Ende des Geiseldramas verletzt, aber lebendig in Begleitung von Soldaten verlassen. Bidegaín aber glaubte lange der offiziellen Version. Dass ihr Mann erst nach der Befreiung von Militärs getötet wurde, diese Möglichkeit erschien ihr völlig unwahrscheinlich.

Zivilisten als Opfer des Bürgerkriegs

Doch dann wurde der Fall 2005 erneut aufgenommen. Eine Liste des Militärs von bei der Erstürmung getöteten Guerilleros tauchte auf. Darauf auch der Name Carlos Horacio Urán. Forensische Untersuchungen des Leichnams kamen zu dem Ergebnis, dass der Richter nach der Befreiung zunächst gefoltert und dann erschossen wurde.

Ein Polizist rettet Geiseln aus dem Justizpalast (Foto: AFP/Getty Images)
Ein Polizist rettet Geiseln aus dem JustizpalastBild: AFP/Getty Images

Ana Maria Bidegaín identifizierte ihren Mann auf Videoaufzeichnungen, die zeigten, wie er den Palast verließ. "Das war schrecklich", sagt Bidegaín. "Immer wieder habe ich mich gefragt, wie es möglich war, dass man mich so belogen hat." Seitdem kämpft Bidegaín um Wahrheit und Gerechtigkeit. Für sich, ihren Mann und die vielen anderen Zivilisten, die bei der Erstürmung des Palastes als angebliche Kollaborateure der Guerilla vom Militär getötet wurden. "Doch der kolumbianische Staat hat die Verbrechen, die damals begangen wurden bis heute nicht anerkannt."

Der Fall von Carlos Horacio Urán ist nur ein Beispiel. Unter den mehr 200.000 Kolumbianern, die im jahrzehntelangen Bürgerkrieg getötet wurden, gibt es viele, die nur sterben mussten, weil man ihnen vorwarf, mit der jeweils anderen Seite zusammenzuarbeiten. Gleichzeitig haben die Kämpfe zwischen linksgerichteten Guerillagruppen, der Regierung und den rechtsgerichteten Paramilitärs mehr als fünf Millionen Menschen zu Flüchtlingen im eigenen Land gemacht. Oft diente der Krieg nur als Deckmantel für den Raub von Land und Besitz. Viele der Opfer kämpfen wie Ana María Bidegaín seit Jahren um Gerechtigkeit und Wiedergutmachung.

Operation des Militärs in Kolumbien (Foto: EPA/CARLOS ORTEGA)
Trotz Verhandlungen geht der Bürgerkrieg weiterBild: picture-alliance/dpa

Der schwierige Umgang mit den Opfern

Inzwischen gibt es Hoffnung auf ein Ende des mehr als fünfzigjährigen Bürgerkriegs. Seit November 2012 führen die kolumbianische Regierung und die marxistische FARC, die größte Guerillagruppe des Landes, Friedensverhandlungen. Regierung und FARC erzielten bereits Kompromisse bei der Neuordnung der extrem ungleichen Landverteilung und bei der Frage der politischen Partizipation der Guerilla. Außerdem erklärte sich die FARC bereit, aus dem Drogenhandel auszusteigen.

In dieser Woche begann in der kubanischen Hauptstadt Havanna eine neue Verhandlungsrunde. Hauptthema ist der Umgang mit den Opfern des Konflikts. Und damit verbunden die möglichen Strafen für die Täter. Das besondere: Ab Samstag (16.08.2014) werden zum ersten Mal auch Vertreter der Opfer mit am Verhandlungstisch sitzen. Insgesamt 60 Opfervertreter, in Delegationen von jeweils zwölf Personen, sollen in den kommenden Wochen den Konfliktparteien ihre Sicht der Dinge darlegen.

FARC-Kommandanten bei den Verhandlungen in Havanna (Foto: dpa)
FARC-Kommandanten bei den Verhandlungen in HavannaBild: picture-alliance/dpa

Opfervertreter zwischen Hoffnung und Skepsis

"Zum ersten Mal", sagt Ana María Bidegaín, "wird das Schicksal der Opfer beachtet. Das ist eine sehr gute Entscheidung." Jetzt müssten alle Konfliktparteien ihre Verbrechen offenlegen. "Die Opfer wollen, dass ihr Schmerz anerkannt wird. Ohne die Wahrheit wird es sehr schwierig werden, die Wunden zu schließen und in die Zukunft zu schauen."

Doch Bidegaín bezweifelt, dass das Militär seine Verbrechen zugeben wird. Auch die Guerilla spricht bevorzugt über die Verbrechen der anderen Seite. Menschenrechtler befürchten, dass sich beide Seiten darauf einigen, die Verbrechen des Bürgerkriegs unter den Tisch zu kehren. Schließlich wollen weder Generäle noch Guerillaführer ihre Zukunft im Gefängnis verbringen. Und so könnte eine neue Welle der Straflosigkeit der Preis für den lang ersehnten Frieden in Kolumbien sein.

Ana María Bidegaín aber will nicht aufgeben. Der Fall ihres Mannes liegt jetzt beim Interamerikanischen Gerichtshof. Und wenn der entschieden hat, will sie ein Buch schreiben. Als innere Reinigung, aber auch, weil der Fall ihres Mannes exemplarisch zeige, was in Kolumbien in den vergangenen Jahren falsch gelaufen ist.