Euro weiter krisenanfällig
20. September 2016Europa ist in der Krise. Inzwischen ist das schon fast keine Nachricht mehr wert. Denn der Wirtschaftsmotor vieler EU-Mitgliedsstaaten stottert bereits seit über zehn Jahren. Kaum Wachstum in Südeuropa, dafür aber Rekordwerte bei der Jugendarbeitslosigkeit. Griechenlands Staatsbankrott konnte bislang nur knapp umschifft werden, ebenso wie das Ende des Euro nur durch die Rede von Zentralbankchef Mario Draghi im Jahr 2012 verhindert wurde. Flüchtlingskrise, britischer EU-Austritt und der Aufstieg von Populisten in vielen Ländern des Kontinents: es gibt viele Gründe, warum Europas Institutionen und seine Spitzenpolitiker in der öffentlichen Wahrnehmung blass, gelähmt und abwesend erscheinen.
Euro nicht auf die nächste Krise vorbereitet
Viel wird deshalb über das Ende der Europäischen Union, das Ende des Euro, gemutmaßt. Für Jacques Delors, genau der richtige Zeitpunkt, um über die richtigen Reformschritte nachzudenken. Besonders vordringlich erscheint dem früheren EU-Kommissionspräsidenten und Gründervater von Euro und Binnenmarkt ein schneller Umbau der Eurozone. "Jetzt wäre ein günstiger Moment, um die notwendigen Anpassungen vorzunehmen", schreibt Delors im Vorwort einer Studie, die von den Delors-Instituten in Berlin und Paris am Dienstag veröffentlicht wurde.
In Zusammenarbeit mit der Bertelsmann Stiftung entstand so der Bericht "Repair and Prepare: Der Euro und Wachstum nach dem Brexit". Darin skizzieren namhafte Experten im Auftrag der Think Tanks, wie Europas Staats- und Regierungschefs den Euro krisensicherer machen können. An der Notwendigkeit daran lässt Professor Henrik Enderlein keinen Zweifel. "Der Euro und die Eurozone sind immer noch zu unfertig und zu instabil, um die nächste Krise zu überleben."
Enderlein hat als Direktor des Jacques-Delors-Instituts in Berlin an dem Bericht mitgeschrieben. Er stellte unweit des Brandenburger Tors einen Drei-Stufen-Plan vor, der von der Eurogruppe und ihren 19 Mitgliedsländern schrittweise umgesetzt werden könnte. In einem ersten Schritt rät die Beratergruppe, die Europäische Zentralbank von ihrer umstrittenen Funktion als Krisenmanager zu befreien. Nur massive Anleihekäufe durch die EZB hatten in den vergangenen Jahren ein eskalieren der Eurokrise verhindert. "Immer wieder auf die EZB als letzer Retter und Feuerwehr zu vertrauen, das ist ein gefährliches Spiel", sagt Enderlein.
Als Erste-Hilfe-Paket für die Eurozone empfehlen die Berater, Notaufkäufe von Staatsanleihen kriselnder Eurostaaten künftig nicht mehr von der EZB, sondern von einer anderen Institution durchführen zu lassen. Ein weiterentwickelter Europäischer Stabilitätsmechanismus (ESM) könnte diese Aufgabe übernehmen. Im Krisenfall würde ein solcher "ESM-Plus" Staatsanleihen im Umfang von 200 Milliarden Euro kaufen, so das Konzept. Damit würde der ESM, der während der Griechenlandkrise in aller Hast eingerichtet wurde, zu einer echten Feuerwehr des Euroraums weiterentwickelt, hoffen die Experten.
Die EZB würde im Gegenzug von einer Aufgabe entbunden, die ihre Unabhängigkeit in Zweifel gezogen hat und die sie in den Augen der Experten ohne ausreichende demokratische Kontrolle und Legitimation durchgeführt hat. Das neue Kriseninstrument, der "ESM-Plus", unterstünde stattdessen direkt dem Veto der nationalen Parlamente, was mehr Transparenz verspricht. "Bislang fehlt diese Kontrolle völlig", sagt Enderlein.
Mehr Krisengeld, mehr Gemeinschaftsinvestitionen
In einer zweiten Stufe raten die Experten dazu, jene Strukturen auf EU-Ebene zu stärken, die Investitionen in Wachstum und Beschäftigung ermöglichen. Weder die Europäische Investitionsbank (EIB), noch der jüngst von EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker vorgeschlagene Investitionsplan seien hier ausreichend. Es fehlten klare Strukturen und vor allem dauerhafte Investitionsmöglichkeiten. Getrude Tumpel-Gugerell, ehemaliges Direktoriumsmitglied der EZB, formuliert es so: "Das derzeit größte Risiko für den Euro ist, dass einige Eurostaaten bei Wachstum und Beschäftigung dauerhaft zurückbleiben."
Um dies zu verhindern, müsste die Europäische Union mit eigenem Geld Investitionsprogramme ausbauen, glauben die Berater. Ziel müsse dabei sein, die Produktivität in Süd- und Osteuropa zu steigern. Dass viele Staats- und Regierungschefs in Europa beharrlich darauf verweisen, dass sowohl Reformen wie auch Investitionen bereits auf den Weg gebracht wurden, lässt Enderlein nicht gelten. "Es wird aktuell viel zu wenig in Wachstum investiert und es haben viel zu wenig echte Reformen stattgefunden."
Viele Staats- und Regierungschefs dürften derlei Kritik ungern hören. Besonders aus Deutschland heißt es dazu oft, dass öffentliche Investitionen in Wachstum eine nationale Aufgabe jedes einzelnen Mitgliedsstaats sein sollten. Im Bericht antworten die Berater darauf wie folgt: "Wir glauben, dass die Regierungen bereit sein müssten, zukunftsorientierten öffentlichen Investitionen oberste Priorität zu geben." Um diese Investitionen auf EU-Ebene zu bündeln und auszudehnen, regt das Gutachten die Gründung einer "Europäischen Fiskalkapazität" an. Diese könne unter der Aufsicht der Mitgliedsstaaten, oder aber des EU-Parlaments eingerichtet werden, je nach politischer Durchsetzbarkeit.
Langfristig bedeutet der Euro mehr gemeinsames Risiko
Die Autoren betonen, dass alle skizzierten Maßnahmen ohne aufwendige (sowie derzeit unrealistische) Änderungen der EU-Verträge umgesetzt werden können. Zudem würden die in den vergangenen Jahren überarbeiteten Regeln des Stabilitäts- und Wachstumspakts unangetastet bleiben. Auch der Fiskalpakt, der die Euromitgliedsländer zum soliden Wirtschaften anhalten soll, könnte unter anderen Vorzeichen in Kraft bleiben. Das könnte manchen Entscheidungsträger dazu verleiten, die Notwendigkeit weiterer Reformschritte herunterzuspielen. Besonders in Deutschland und Frankreich erscheint der politische Wille derzeit gering, in Zeiten von Flüchtlingskrise, Terroranschlägen und bevorstehender Wahlen eine neue Büchse der Pandora zu öffnen. Ein Fehler, sagen die Studienautoren. "Eine Reform des Euro mag für die Politik momentan unpopulär erscheinen, aber sie ist entscheidend", sagt Enrico Letta. Der frühere italienische Premierminister ist heute Direktor des Delors-Instituts Paris und hat an der Studie mitgewirkt.
Nur an ein heißes Eisen wagen sich auch die Autoren vom Delors-Institut und der Bertelsmann-Stiftung nicht heran. Auf die Frage, ob die Eurozone ebenso wie die Europäische Union eine Möglichkeit zum Austritt bekommen sollte, zögern die Autoren. "Das sollte man besser vermeiden", sagt Prof. Henrik Enderlein. Und Aart De Geus, Vorstandsvorsitzender der Bertelsmann Stiftung, fügt hinzu: "Auch wenn es einen solchen Austritts-Artikel gäbe, wüsste danach immer noch keiner, wie und mit welchen Folgen ein solcher Austritt vonstatten gehen würde."Im Delors-Institut sind sie deshalb überzeugt: Es ist besser, den Euro zu reparieren. Das könnte auch eine gute Gelegenheit sein, um die kränkelnde Europäische Union zu revitalisieren.