Decoding China: Wenn Quereinsteiger E-Autos bauen
18. März 2024Der Elektronikhersteller Xiaomi will am 28. März in China sein erstes E-Auto ausliefern. Der Quereinsteiger mit einem Jahresumsatz von knapp elf Milliarden Euro (Stand 2022) hat innerhalb von drei Jahren die Idee eines elektrischen Sportwagens in die Tat umgesetzt. Nun müssen sich die deutschen Autopremiumhersteller mit einem weiteren Konkurrenten aus Fernost auseinandersetzen.
SU7 heißt das neue Gefährt. SU steht dabei für Speed Ultra. Nur 2,78 Sekunden braucht das Auto, um von 0 auf 100 km/h zu beschleunigen. Die Höchstgeschwindigkeit liegt bei 265 km/h. Die maximale Reichweite bei voller Batterieladung wird vom Hersteller mit 800 Kilometer angegeben. Der Grundpreis des SU7 beträgt umgerechnet 33.000 Euro. Der SU7 ist damit eben so teuer wie ein Tesla 3 - ein Drittel des Preises, der für einen grünen Porsche Taycan in China zu zahlen ist.
Konzernchef Lei Jun, laut Forbes mit zwölf Milliarden US-Dollar Privatvermögen auf Platz 159 unter den Reichsten der Welt, hat die Konkurrenten aus Palo Alto und Stuttgart im Visier. "Wir wollen keinen Kompromiss und keine Mittelmäßigkeit", sagt Lei. "Wir wollen ein Traumauto bauen, das Tesla und Porsche die Stirn bietet."
Handyhersteller als Autobauer
Längst ist China der größte E-Auto-Hersteller der Welt. Die E-Mobilität wäre ohne Innovationen der dortigen Firmen unvorstellbar. Unter den Anbietern im Reich der Mitte befinden sich viele Quereinsteiger, deren ursprüngliche Geschäftsbereiche mit der Autoindustrie an sich nichts zu tun haben.
Xiaomi stellt überwiegend so genannte intelligente Haushaltsgeräte mit Webfunktionen her wie Türsensoren oder Reiskocher, die über Handy mitteilten, wann der Duftreis fertig ist. In Europa ist Xiaomi vor allem für seine Smartphones bekannt, so wie der andere Telekommunikationsausstatter Huawei, der schon seit 2021 seine E-SUVs unter dem Namen AITO in China auf den Markt bringt.
Dass Quereinsteiger mit diesem Geschäftsfeld liebäugeln, ist nicht auf China beschränkt. Bereits vor 14 Jahren hatte auch der kalifornische Konzern Apple die Idee, Autos zu produzieren. Ende Februar 2024 teilte der iPhone-Hersteller aus Cupertino aber mit, dass das Projekt "Apple Car" endgültig eingestellt worden sei. Der Konzern soll insgesamt zehn Milliarden US-Dollar investiert haben.
Komplett neues Konzept
China ist der größte und am schnellsten wachsende Automarkt der Welt. Die etablierten deutschen Autobauer verkauften 2023 weltweit ungefähr jedes dritte Auto in China. Aber ihre Marktposition wird durch inländische E-Auto-Hersteller jetzt herausgefordert.
Die Gründe liegen auf der Hand: "China führt die globale Lieferkette für Lithium-Ionen-Batterien an", sagt Bernd Diepenseifen, Partner der Beratungsgesellschaft KPMG. Gemessen an Batterieproduktion, Industrieinnovation und Absatz sei China auf der Skala der Wettbewerbsfähigkeit klar die Nummer eins. "Hier haben die asiatischen Anbieter zumindest aktuell eine dominante Position", so der Experte. Schlechte Karten also für Deutschland: "Die Rohstoffproduktion ist sicherlich kein Feld, auf dem deutsche Zulieferer sinnvoll Chancen suchen, und auch nicht in der Batterieproduktion".
Welche hohen Ansprüche die Fahrzeughersteller aus China erfüllen möchten, wurde auf dem 91. Genfer Autosalon deutlich. Kein einziger Autobauer aus Deutschland war dort präsent, dafür aber jede Menge aus China. Sie zeigten mit ihren Showautos, was sie unter Konnektivität verstehen: integrierte Audio- und Video-Streamingdienste im Entertainmenttool, sowie eine Navigation, die per Countdown anzeigt, wann die nächste Ampel auf grün schaltet. Obendrauf werden für das Interior Massagesessel angeboten - serienmäßig.
Spitzenposition in der Technologie
Die Branche in China sieht ein Auto nicht mehr nur als ein Fortbewegungsmittel, das die Fahrgäste über eine größere Entfernung zum Ziel transportiert. Ein Auto ist heute eben nicht mehr bloß ein Ottomotor plus Getriebe, die E-Mobilität nicht nur Karosserie mit Steckdose. China denkt weiter: Es geht um automatisiertes Fahren und Künstliche Intelligenz, um ein umweltfreundliches Verkehrskonzept und die technologische Führung in der industriellen Produktion. Deswegen bringen sich die Elektronik- und Telekommunikationsriesen auf dem umkämpften Markt in Position.
"Derzeit sind fahrende Autos 'mobile Rechenzentren'", sagt Xiaomi-Chef Lei. "Die Automobilindustrie der Zukunft wird fortgeschrittenen und vernetzten 'Smart Space' produzieren." Der andere Hersteller NIO bringt sein Konzept auf den Punkt: Ein NIO als Erweiterung des Wohnzimmers auf vier Rädern. Wan Gang, Ex-Forschungsminister Chinas, schwärmte schon auf der Automesse IAA 2023 in München davon, dass die E-Autos beim Be- und Entladen als Energiespeicher im Stromnetz genutzt werden könnten.
Daten, Daten und Daten - 'Smart' ist die Zukunft
"Für die Produktion und das Fahrzeug der Zukunft ist 'Smart' der nächste große Schritt", sagt Jürgen Unser, der bis zum Januar 2024 China-Präsident von Audi war. "Smart Car, smart Produktion sowie smart Infrastruktur." Die Produktion werde demnächst von Daten und über Künstliche Intelligenz gesteuert. "Es ist sehr wichtig für unsere Gesellschaft, auch in Deutschland, dass wir beim Umgang mit den Daten und bei deren Verwendung deutlich offener werden müssen."
Die chinesischen Autofahrer sind im Vergleich zu anderen Ländern unempfindlich gegenüber dem Sammeln von privaten Daten. Mit den Daten ist dann die innovative Digitalindustrie in der Lage, Algorithmen für die Anwendung der Künstlichen Intelligenz zu entwickeln. Diese Technologien werden als Schlüssel zur Industrie von morgen angesehen.
"Die Künstliche Intelligenz wird zu unserem Fortschritt und Wohlstand beitragen", so Unser weiter. "Wir müssen schnell, offen und flexibel sein." Allerdings müssten die gesammelten Daten auch geregelt ausgetauscht werden.
So hatten die Bundesregierung und China im Jahr 2018 eine gemeinsame Absichtserklärung für automatisiertes und vernetztes Fahren unterzeichnet, die der DW vorliegt. Beide Länder wollen "diskriminierungsfreie multilaterale Normen und Anforderungen für Datenzugang und -speicherung, Datenübermittlung und IT-Sicherheit (Cybersecurity) im Bereich automatisiertes und vernetztes Fahren sowie der zugehörigen Infrastruktur" schaffen und entwickeln.
Hohe Hürden beim Datentransfer
Die Realität sieht aber anders aus. Laut EU-Kommission beschweren sich viele EU-Unternehmen über Schwierigkeiten bei der Nutzung von Industriedaten ihrer Tochtergesellschaften in China. Ausländische Investoren müssen ihre Rechenzentren in China betreiben. Sie sind meistens eine Insellösung, abgekoppelt von der Datenbank oder dem Cloud-Service des Mutterhauses.
Chinas Daten- und Cybersicherheitsvorschriften seien für die europäische Industrie "ein Problem", ist aus Brüssel zu hören. Der Transfer von Daten aus China heraus bedarf nämlich einer staatlichen Genehmigung durch die Cyberaufsichtsbehörde CAC. Diese will jeden Export von "wichtigen Daten" prüfen.
Auch der Bundesregierung sind die hohen Hürden bekannt. Bundesdigitalminister Volker Wissing hatte bei den deutsch-chinesischen Regierungskonsultationen 2023 die Notwendigkeit eines freien Datentransfers unterstrichen. Derzeit verhandeln die EU und China über einheitliche Industrienormen der Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT) im Interesse der grenzlosen Datenregulierung. Noch suchen sie eine gemeinsame Basis.
"Decoding China" ist eine DW-Serie, die chinesische Positionen und Argumentationen zu aktuellen internationalen Themen aus der deutschen und europäischen Perspektive kritisch einordnet.