Dauerbeschuss kurz hinter der Kontaktlinie
22. Februar 2022Mehr als drei Schritte möchte Olena Makarenko nicht von der Tür ihres Wohnblocks weggehen. "Man weiß nie, wann der nächste Beschuss anfängt", sagt sie. Vom Eingang des grauen zweistöckigen Wohnblocks führt eine Treppe hoch in ihre Wohnung, eine in den Keller. "Wenn es still ist, gehe ich immer mal wieder raus", presst sie hervor. "Sonst wird es zu kalt im Keller."
Seit vier Tagen gerät das ukrainische Dorf Wrubiwka, nahe an der Kontaktlinie und 50 Kilometer westlich von Luhansk, immer wieder unter Beschuss. Vier Tage, die sie hauptsächlich in dem niedrigen Kellerraum mit nacktem Erdboden verbracht haben. Ein kleiner elektrischer Ofen bläst etwas hilflos gegen die feuchte Kühle an. Sie haben haben ein Bett heruntergetragen.
Eine alte Frau liegt dort unter Decken vergraben und ein Junge, der im Schlaf sein Handy fest umklammert hält. Olena schnappt sich schnell eine Plastiktüte und geht hinauf in die Wohnung. Ihre Tochter ist am Packen, sie will sich für ein paar Tage in einem Nachbarort in Sicherheit bringen.
"Mir wäre am liebsten, sie würde mit den Enkeln für ein paar Wochen in die Karpaten - mehr als tausend Kilometer westlich - gehen. Bis dahin sollte klar sein, wie es hier weitergeht." Die Anerkennung der selbsternannten Republiken auf der anderen Seite hat sie eher ratlos zur Kenntnis genommen. "Ich weiß nicht, was das für uns bedeutet", sagt sie. "Ich weiß ja nicht einmal, was ich als nächstes tun soll."
Immer mehr Eskalationen, immer weniger Beobachter
Seit fünf Tagen nimmt die Eskalation entlang der gesamten Kontaktlinie zu. Hunderte Granaten sind bereits auf die ukrainische Seite heruntergeregnet. Wie es auf der anderen Seite aussieht, darüber gibt es keine gesicherten Informationen. Die ukrainische Führung glaubt, dass die Rebellen auf der anderen Seite die staatlichen Truppen zu einer Reaktion provozieren wollen und haben die Anweisung gegeben, äußerst zurückhaltend zu reagieren.
Nur wenn die Sicherheit der Truppen bedroht sei, solle geantwortet werden. Doch wie die Soldaten vor Ort reagieren ist kaum zu überprüfen. Die OSZE, die Verletzungen des Waffenstillstands kontrollieren soll, kommt kaum hinterher, die vielen Scharmützel zu dokumentieren - auch weil inzwischen mehrere Länder ihre Beobachter abgezogen haben.
Dorf Wrubiwka unter Dauerfeuer
Wrubiwka liegt eigentlich in einigem Abstand hinter der Kontaktlinie. 15 Kilometer sind es von hier bis zu den ersten gegnerischen Stellungen - ungefähr die Reichweite einer Feldhaubitze. Rundherum ist es der einzige Ort, der so heftig beschossen wird. Auf der Rückseite von Olenas Wohnblock sind die Fensterscheiben gesplittert.
Eine Granate ist direkt auf der Dorfstraße explodiert. Gleich nebenan auf dem Schulhof hat ein Geschoss einen Krater gleich hinter dem Fußballtor gerissen. Gerade ist der Gasnotdienst in einem gelben Kleinbus sowjetischer Bauart vorbeigekommen. Ein Arbeiter schweißt Löcher an der oberirdischen Gasleitung zu, die die Granatsplitter gerissen haben.
Sie seien gestern schonmal dagewesen, sagt ein Arbeiter, aber dann seien sie selbst unter Beschuss gekommen und hätten sich unter ihrem schweren Fahrzeug verstecken müssen. "Wir haben einfach nur Angst", sagt eine Lehrerin, die daneben steht. Vor der Kamera möchte sie nichts sagen, sie fürchte, während des Interviews zusammenzubrechen, sagt sie.
Wrubiwka blieb während der heftigen Kämpfe von 2014 und 2015 relativ verschont - trotz seiner Lage zwischen mehreren größeren Städten um die damals gekämpft wurde. Jetzt ist das Dorf unter Dauerbeschuss, während die Nachbarorte relativ ruhig sind.
"Immer wieder rufen Leute an und fragen mich, warum ausgerechnet wir hier so stark beschossen werden", sagt Olena Makarenko, die in friedlicheren Zeiten das örtliche Kulturzentrum leitet. "Aber was soll ich sagen. Ich weiß es doch auch nicht." Kurz winkt sie den Nachbarn quer über den Hof zu, die im Hof ihre Habseligkeiten in einen gelben Minibus laden. Dann geht sie die Treppe herauf, um ihrer Tochter beim Packen zu helfen.