Das verwirrte Königreich
9. Juni 2017Ekstase, lautes Gebrüll und umgedichtete Fußball-Gesänge, die nur eine Textzeile kennen: "Je-e-re-my Cooor-byn". Als in einem Londoner Pub im Wahlbezirk des Labour-Chefs die ersten Hochrechnungen auf eine Leinwand projiziert werden, kennen die Menschen kein Halten mehr. Auch wenn Corbyns Partei keine Mehrheit zustande bringt: Für die Labour-Anhänger ist jeder verlorene Sitz der Konservativen im Parlament ein Gewinn.
"Es tut gut, dass ein bisschen Mitgefühl aus dieser Wahl entstanden ist", erklärt ein Pub-Besucher den Jubel. Ein erdrutschartiger Wahlsieg der Labour-Partei schien unwahrscheinlich, doch das hält die Menschen in der Kneipe nicht davon ab, das beste aus dem Ergebnis zu machen. "Es ist egal wie das finale Ergebnis aussieht, es verändert sich etwas in diesem Land", sagt eine Zuschauerin. "Was als in Stein gemeißelt galt, ist es seit heute Nacht einfach nicht mehr."
Das unterstreicht auch jemand, der zumindest in der britischen Politik schon als abgeschrieben galt: Nigel Farage. Mit dem leuchtenden Ziffernblatt des Big Ben im Hintergrund warnt er fast drohend mit seiner Rückkehr, sollte der Brexit gefährdet sein. Seine Befürchtung: "Wir schauen der Gefahr eines zweiten Referendums ins Gesicht".
Ein bisschen lockere Stimmung tut gut
Doch vorerst wollen die Briten nichts von einer weiteren Wahl wissen, schon am Wahltag brauchte es zwischenzeitlich ein paar Späße, um sich die Zeit bis zur Auszählung zu vertreiben. Als die amtierende Premierministerin Theresa May in Ballerinas mit Leopardenmuster zum Urnengang in ihrem Wahlkreis auftauchte, begannen ihre Landsleute direkt das "Schuhwerk ihrer Wahl" im Internet unter dem Hashtag #votingshoes zu teilen. Ebenso beliebt waren Hunde unter dem Hashtag #dogsatpollingstations.
Ein bisschen lockere Stimmung tat sichtlich gut nach einem angespannten Wahlkampf, der von den Anschlägen in Manchester und London überschattet worden war. So gab es am Wahltag mehrere Festnahmen, die im Zusammenhang mit dem Angriff in London stehen sollen. Nur wenige Stunden später ließ die Londoner Polizei zeitweise den Trafalgar Square mitten in der Innenstadt sperren. Auch wenn der Zwischenfall später als nicht-terroristisch eingestuft wurde, wollte man kein Risiko eingehen.
Märtyrer für einen guten Zweck
Eigentlich sollte mit den Neuwahlen entschieden werden, wer die Austrittsverhandlungen mit der Europäischen Union führt. In den sieben Wochen Wahlkampf wurde jedoch schnell klar, dass den Briten ganz andere Themen wichtig sind. Der Stimmenzuwachs für Labour ist ein Indikator für die soziale Unzufriedenheit, ein Resultat des harten Sparkurses der Konservativen. Doch neben den Konservativen hatten auch die kleinen Parteien, allen voran die Grünen (Green Party) und die Schottische Nationalpartei (SNP), unter dem Stimmenzuwachs von Labour zu leiden.
In einer großen Halle im Londoner Stadtteil Lambeth wurden die Stimmen für gleich drei Wahlkreise ausgezählt. Darunter auch Dulwich, bekannt für seinen hohen Migrationsanteil in der Bevölkerung, seine spektakulären 78 Prozent für den Verbleib in der EU beim Referendum 2016 und für die starke Basis der Grünen. Lambeth Scott Ainslie, der als einziger Grünen-Beobachter im Auszählungsverfahren vor Ort ist, sieht in seiner Partei einen Märtyrer für den guten Zweck: "Indem wir in einigen Bezirken nicht kandidiert haben, haben wir Labour geholfen die Sitze zu behalten", sagt er. "Labour hat uns viel zu verdanken."
"Ein Desaster für May"
Am frühen Morgen erhält Labour-Kandidatin Helen Hayes das Mandat für Dulwich mit einer Mehrheit von 69,6 Prozent der Stimmen. Im Vergleich zur vorangegangenen Wahl haben alle anderen Kandidaten zugunsten Hayes' verloren. Sie zieht nun erneut ins Parlament, in dem mehr Frauen vertreten sein werden als zuvor.
Die Verantwortung für das Wahlergebnis trägt laut SNP-Chefin Nicola Sturgeon aber nur eine: Theresa May. "Es ist ein Desaster für sie", sagt die schottische Regierungschefin, die zwar für Schottland die Wahl gewonnen, aber in London einige Sitze verloren hat.
Ein schottisches Unabhängigkeitsreferendum scheint bereits in ebenso weiter Ferne wie Mays Versprechungen, für Sicherheit und Stabilität zu sorgen, damit "wir alle als ein Land vorwärts blicken können." Das Gegenteil ist eher der Fall, und es hilft May auch nicht, dass bei Bekanntgabe ihres Wahlergebnisses Spaßkandidaten in ulkigen Verkleidungen neben ihr stehen.
Rücktrittsforderungen nicht nur vom politischen Gegner
Dass in dieser Wahlnacht einiges in Großbritannien aus den Fugen geraten ist, zeigen auch die Reaktionen auf Mays Wahldebakel. Anstatt, wie es Tradition ist, ihre Mehrheit anzuerkennen, fordert Labour-Chef Jeremy Corbyn den Rücktritt der Premierministerin. Sie habe ihr Regierungsmandat verloren. Im Morgengrauen, als sich May ins Londoner Tory-Hauptquartier aufmachte, wurde auch schon von einigen Konservativen ein Rückzug der Partei- und Regierungschefin gefordert.
Theresa May hatte die Wahlen ausgerufen, um ein stärkeres Mandat für den Brexit zu erhalten. Als die Sonne über dem Königreich aufgeht, sind noch nicht alle Wahlkreise ausgezählt, doch schon steht fest: May hat weder ein stabiles Regierungsmandat noch scheint irgendetwas sonst im Vereinigten Königreich sicher.