Von Wohlstandsbürgern und Flüchtlingen
19. November 2013Entsetzt, betroffen, traurig und ratlos zugleich habe er auf die Berichte über die toten Flüchtlinge vor der italienischen Insel Lampedusa im Oktober 2013 reagiert, sagt Andreas Schäfer. Das Thema beschäftigt den 44jährigen Schriftsteller schon lange. Anfang der 90er bei seinen Urlaubsaufenthalten auf griechischen Inseln war er jedes Mal damit konfrontiert. Nicht aus Afrika kamen diese Flüchtlinge, sondern aus dem benachbarten Albanien. Es waren junge Männer, die illegal über die Grenze nach Griechenland gelangten, um hier nach Arbeit zu suchen. Sie waren da, erinnert sich Andreas Schäfer, und dennoch fernab der griechischen Gesellschaft.
Augenscheinlich und geradezu schmerzlich wahrnehmbar war das auf der Volta, dem abendlichen Flanieren entlang der Uferpromenade. "Da hat man sie dann gesehen, diese armen, junge Männer, die wie hungrige Hunde am Rand gestanden und gesessen haben und einfach nur dazu gehören wollten. Da habe ich so etwas wahrgenommen, was später für den Roman eine große Rolle gespielt hat, nämlich diese Diskrepanz zwischen unserer Wohlstandswelt und dem Elend derjenigen, die dazu gehören wollen."
Andreas Schäfer wurde 1969 als Sohn eines deutschen Vaters und einer griechischen Mutter in Deutschland geboren und dort aufgewachsen. Mit Mitte Zwanzig nahm er griechischen Sprachunterricht und reiste auch für ein Jahr nach Griechenland. Er wollte die Verbundenheit und Sehnsucht, die er für das Land spürte, für ihn fassbarer werden lassen. Grieche? Deutscher? Deutschgrieche? Andreas Schäfer hat sich verortet: Er fühle sich als Mitteleuropäer. Er arbeitet als Autor und Journalist. Seine Romane handeln von Familien mit untergründig schwelenden Konflikten, von schicksalhaften Bindungen. Sein Roman "Wir vier" (2010) wurde für den Deutschen Buchpreis nominiert und wurde mit dem Anna-Seghers-Preis ausgezeichnet. Sein neuester Roman "Gesichter" ist ein Seelendrama.
Das Thema des Fremden
Am Anfang waren es Erlebnisse am Hafen der griechischen Stadt Patras. Wie jeder Urlauber, der hierher kommt, um die Fähre nach Italien zu nehmen, sah auch Schäfer jedes Mal Menschen aus Afghanistan, dem Irak, aus afrikanischen Ländern, die sich auf dem Hafengelände aufhielten. Sie versuchten eine Gelegenheit abzupassen, um sich in einem der Lastwagen zu verstecken, die auf die Fähre warteten. Das gelingt nur wenigen. Die meisten werden erwischt und verhaftet, um dann wieder in die Obdachlosigkeit entlassen zu werden. Und nicht nur das. Die Menschenrechtsorganisation Pro Asyl hat im letzten Jahr über dreißig Fälle dokumentiert, bei denen Flüchtlinge in Patras von der Polizei misshandelt wurden. Die meisten Übergriffe ereigneten sich bei Razzien auf offener Straße, in den selbstgebauten Behausungen der Flüchtlinge und im Hafengebiet.
Solche Erlebnisse und Berichte waren die auslösenden Momente, die Schäfer dazu führten, seinen Roman "Gesichter" zu schreiben. Am Hafen von Patras beobachtet die Romanfigur Gabor Lorenz einen jungen Mann, dem es gelingt, unbemerkt auf die Fähre zu gelangen, mit der auch Lorenz und seine Familie nach Italien übersetzen. Das Bild lässt Lorenz nicht mehr los, er hilft dem Mann - oder glaubt zumindest es zu tun - und wird mit seinem Schicksal konfrontiert. Das Thema des Fremden durchzieht Schäfers Roman. Es spiegelt wider, "wie Europa den Flüchtlingen begegnet, nämlich mit einer geschlossenen Grenze", sagt Schäfer.
Festung Europa
Die Folge dieser Abschottungspolitik seien eben solche Flüchtlingsdramen wie vor Lampedusa, glaubt Andreas Schäfer. Seitdem sei das Thema Flüchtlingspolitik zwar auf der politischen Agenda, nach vorne gerückt. Doch viel Hoffnung, dass sich deshalb etwas ändern wird, macht sich Andreas Schäfer nicht.
Etwa 80 Prozent der Flüchtlinge versuchen über Griechenland in die EU zu gelangen. Nach offiziellen griechischen Schätzungen sollen über eine Million im Land leben. Weil die staatlichen Behörden mit dem Problem überfordert sind, bleiben die allermeisten Flüchtlinge auf sich selbst gestellt, leben unter menschenunwürdigen Bedingungen und von Almosen. Ihre Versuche, diesem Schicksal zu entkommen und nach Westeuropa weiter zu reisen, scheitern im Hafen von Patras. Hier treffen sie dann auf die westeuropäischen Wohlstandsbürger, denen zu Griechenland, die schönen Strände und das blaue Meer einfällt. Diese Diskrepanz, so Andreas Schäfer, ruft bei ihm ein dauerhaftes Unbehagen hervor. Auch deshalb hat er "Gesichter" geschrieben.