Das türkische Berlin
Berliner Türken, türkische Berliner: Klischees und Überraschendes dicht beieinander. Eine Bildreportage vom Kottbusser Tor.
Ahmed, Möller, Yildiz
Multi-kulturelle Hausgemeinschaften: Am Kottbusser Tor gehören solche Klingeltafeln zum Alltag. Die Wohnungsbau-Gesellschaften und das Quartiersmanagement, die Betreuer des Viertels, arbeiten ständig in mehreren Projekten für mehr Miteinander. Alleine in dieser Gegend Berlins leben rund 24.000 Türken und noch mal die gleiche Zahl an Deutschen türkischer Herkunft.
Kulturimbiss
Das Programm der Sozialeinrichtung "Kulturimbiss" heißt Integration. Auf dem Stundenplan: "Frauentreff, Alphabetisierung, Deutsch für Anwohner, interkulturelles Nachbarntreffen." Und seit der Kulturimbiss in den Räumen eines Cafés eingezogen ist, lässt das Interesse der arabischen und türkischen Anwohner nicht nach. Bezahlt wird das Projekt von der Wohnungsgesellschaft und dem Quartiersmanagement Kottbusser Tor...
Betonmonster mit 4500 Bewohnern
Das "Zentrum Kreuzberg" prägt das Bild des "Kotti", deutlicher: Es zerstört es. Eine Sozialwohnungs-Festung aus den frühen Siebziger Jahren. Rund zwei Drittel der Menschen, die hier wohnen, sind Ausländer oder Deutsche ausländischer Herkunft. Vor einigen Jahren haben der Bezirk Kreuzberg und der Berliner Senat angefangen, mit vielen Sozialprojekten Zusammenhalt und Toleranz an diesem Brennpunkt zu fördern...
Die neuesten Hits auf Kassette
...aber auf sein Sortiment von über 5000 Alben ist der Chef trotzdem stolz. Fast die Hälfte davon sind Audio-Kassetten. Auf die Frage, ob er den größten türkischen Musikladen in Berlin habe, antwortet er: "Ich meine doch. Ist aber ja auch nicht entscheidend. Ich kenne einfach alle Künstler." In der EU ist zumindest die türkische Popmusik längst angekommen. "Tarkan ist doch ein internationaler Star. Und wir haben 2003 den Schlager-Grand-Prix gewonnen!", weiß Aydin.
DITIB Moschee
...in die Moschee. In dem unscheinbaren Flachbau im Hinterhof treffen sich die Männer täglich zum Gebet. Die Frauen sitzen zwei Stockwerke höher. In der Moschee gibt es einen kleinen Laden, wo die Gläubigen Gebetsteppiche für drei Euro kaufen können. Berlins Muslime beten in fast 80 Moscheen. Neun große, neue Gebäude sind im Winter 2004 im Bau.
Willkommen, Merhaba am Kotti!
Kottbusser Tor, Ausstieg links. Willkommen in "Klein-Istanbul"! "Kotti" nennen die Berliner diesen Platz im Bezirk Kreuzberg. Es gibt wohl keinen anderen Ort auf EU-Gebiet, der so von Türken geprägt ist. Durch die Scheiben der Hochbahnhof-Halle schimmern die Schriftzüge von Läden wie "Kuruyemis", "İş Bankası" oder "Orient Basar". Am Zeitungskiosk liegt die aktuelle "Bild" unter den Ausgaben von "Hürriyet" und "Fanatik". Kottbusser Tor, die Treppe runter und dann: Willkommen in einer eigenen Welt...
Einkaufszentrum Deniz
Supermarkt wäre untertrieben: Genau an der Grenze zwischen den Bezirken Kreuzberg und Neukölln liegt das türkische Einkaufszentrum Deniz. Bis 2001 hieß es noch Kaufhaus Adese, dann hat der Besitzer gewechselt. 3200 Quadratmeter, zwei Etagen - Shopping wie im Urlaub am Mittelmeer. Oben gibt es einfache Kleidung, unten die Lebensmittel. Hier dominieren Großpackungen wie der Reis im 5-Kilo-Gebinde. Ideal für türkische Großfamilien...
Kürbiskerne als Ersatzdroge
...denn bezahlt wird hier meist nach Gewicht. "Frauen, vor allem die deutschen, kaufen oft Pinienkerne", erzählt der Besitzer. Ansonsten gehen Kürbiskerne gut, viele türkische Männer kauen sie als Ersatzdroge für das Rauchen. Draußen am Laden steht "Kuruyemis". "Das heißt Trockenfutter, das essen wir bei jeder Gelegenheit", erklärt der Mann an der Waage. Das Geschäft ist im riesigen Wohnblock "Zentrum Kreuzberg" untergebracht.
Kottbusser Tor: U-Bahn, Kreisverkehr, Kriminalität
"Orient-Express" ist ein Spitzname der Linie 1, die paradoxerweise eine U-Bahn-Strecke ist. Am "Kotti" kreuzt sie die U8, in der Drogenhandel und Kleinkriminalität zum Alltag gehören. Wer an diesem Platz steht, befindet sich laut Berliner Sozialatlas an einem "gefährlichen Ort". Kottbusser Tor ist der Name für einen Platz ohne Grünflächen, einen großen Kreisverkehr, eine Kreuzung von sechs Straßen und ein ganzes Viertel.
Union der Anstalt für Religion
...nur ein paar Meter weiter gibt es schon einen geistlichen Ort: Die Räume der "Türkisch-Islamischen Union der Anstalt für Religion", DITIB. Das ist der größte Verband von Muslimen in Deutschland - gegründet vom türkischen Staat. Vor allem die älteren Männer treffen sich vor dem Gebet im Vereinsraum. Bei ein, zwei Gläsern Tee und einigen Zigaretten diskutieren sie über aktuelle Themen. Auf Tischen stehen Tupperschalen mit Würfelzucker. Wenn die Zeit gekommen ist, zahlen die Männer und gehen ein Stockwerk tiefer...
Restaurant Hasir
Wer doch das Klischee sucht, ist bei "Hasir" gut aufgehoben. Rund um die Uhr hat das Restaurant von Mehmet Aygün geöffnet. Er hat den Fladenbrot-Snack in Deutschland eingeführt - 1971, damals war er 16. Der Döner war und ist schlechthin die Erfolgsgeschichte multi-kultureller Inspiration: In ganz Deutschland werden jährlich über 700 Millionen Döner gegessen. Die meisten von Deutschen.
Restaurant Demirel
Bei "Demirel" essen die Menschen seit mittlerweile 15 Jahren. Der Name kommt von der Ähnlichkeit des Besitzers zum ehemaligen türkischen Präsident Süleyman Demirel. Die Tochter des Chefs, Senay Ufakcan, ist heute stolz auf das Lokal, auch weil so viele Deutsche "aus allen Bezirken" kommen. Zum EU-Beitritt meint sie: "Die Türkei ist kein Dritte-Welt-Land und sollte auch nicht so behandelt werden." Dann rät sie: "Testen Sie unser Essen und folgen Sie mir..."
Deutsch lernen im Café
...das ermöglicht vor allem arabischen und türkische Frauen, Deutsch zu lernen. Die Fortschritte erlebt die Gruppe im lauten Nacherzähl-Training: "Ich bin heute morgen aufgestanden. Ich habe Kaffee gekocht. Und dann bin ich einkaufen gegangen." Die Lehrerin ist zufrieden: "Sehr schön. Alles im Perfekt!" Die Frauen vom Kottbusser Tor durften lange keine Sprachkurse besuchen, viele konnten sie auch nicht bezahlen. Durch den Kultur-Imbiss hat sich das zumindest für einige geändert.
Maschari-Center im Bau
Direkt neben Demirel: die bekannteste Baulücke in ganz Kreuzberg. Hier brannte bei Krawallen am 1.Mai 1987 ein Supermarkt ab. Seitdem wollte niemand mehr an dieser Stelle bauen. Und das, obwohl sich heraus gestellt hat, dass das Feuer ein Serienbrandstifter gelegt hat - kein Autonomer. Nun entsteht an dieser Stelle die Maschari-Moschee mit vier Minaretten, Läden und Büros. Viele fragen sich, woher der "Islamische Verein für wohltätige Projekte" die rund 10 Millionen Euro für den Bau hat.
Haare schneiden und Tee trinken
Die Ladenzeile im Erdgeschoss eines Hauses am Kottbusser Tor: Drei Frisöre, ein Wettbüro, eine türkische und eine deutsche Bäckerei, ein Kfz-Gutachter. Durch die Galerie, den verglasten Gang vor diesen Geschäften, kommt wahrhaftig Basar-Stimmung auf - wie sie ein Schriftzug am Haus verspricht. Der Frisör Yavuz bietet seinen Kunden für die Wartezeit stets ein Glas Tee an. In der Mittagszeit hat er viel Arbeit. Dann kommen häufig Angestellte der nahgelegenen türkischen Banken zum Haareschneiden.
Zum Ordern in der Küche
...zum Bestellen gehen die Gäste in die Küche. Ali Çekmen kocht und erklärt seine Speisen: "Alles gute türkische Hausmannskost. Hackfleischbällchen in Jogurtsauce oder Köfte oder Geflügelragout? Dazu Reis mit weißen Riesenbohnen oder Reispilav oder marinierte Paprika?" Bei "Demirel" gibt es einen Pauschalpreis von sechs Euro für jedes Gericht. Hauptgang, Beilage und Salat sowie Mineralwasser.
Anatolia Trockenfrüchte
Rund um das Kottbusser Tor liegen auf den Bürgersteigen Schalen von Sonnenblumen- und Kürbiskernen. Die Versorgung mit Knack- und Lutschwaren übernehmen unter anderem die drei Läden der Kette "Anatolia". Alle drei Mitten im türkischen Berlin (Kreuzberg/Neukölln) - nicht einmal zwei Kilometer voneinander entfernt. "Der Laden in der Karl-Marx Straße geht besser", erzählt der Besitzer, "hier am Kottbusser Tor sind wir erst seit rund einem Jahr". Auf die Preise hat sich das maue Geschäft bisher nicht ausgewirkt...
Anwalt im zweiten Stock
Auch das ist typisch für den Schmelztiegel Kottbusser Tor. Versicherungsagentur und Anwaltskanzlei in einem: Der Laden von Hakan Kir ist Teil des riesigen Betonkomplexes. Tausende Menschen leben in dieser Wohnfabrik, die in den späten 1960er Jahren geplant wurde. Die Idee damals: Eine moderne architektonische Adaption der hängenden Gärten.
Cola als EU-Import
...dort kaufen auch viele deutsche Anwohner ein. "An Wochenenden sind fast nur Deutsche da", erzählt einer der Verkaufsleiter. Kein Wunder: Hier gibt es fast alles außer Schweinefleisch und Alkohol. Ein Verkaufsschlager: Türkische Cola. Deutsche Supermarktketten denken inzwischen auch darüber nach, sie ins Sortiment zu nehmen.
Aydin Kasetcilik
Nahe beim Einkaufszentrum Deniz liegt das Geschäft von Herrn Aydin. Kottbusser Damm 1 lautet die Adresse seines Musikladens. Er ist stolz darauf. Etwa jeder zehnte Kunde sei Deutscher, sagt er fast akzentfrei und mit Berliner Dialekt. "Die Deutsche Schlagermusik ist am Aussterben, die singen doch fast nur noch englisch." Das bringe viele Türkei-Urlauber auf die orientalischen Klänge. Die neuesten Veröffentlichungen muss Herr Aydin in der Türkei bestellen...