Das Smartphone als Seismograph
20. Februar 2016Es ist ein Samstag, als um 11.56 Uhr die Erde zu beben beginnt. Nur wenige Sekunden später stürzen in Nepals Hauptstadt Kathmandu und in weiten Teilen des Landes die ersten Häuser ein, begraben Tausende Menschen unter sich.
Das Beben, das Nepal und die umliegenden Länder am 25. April 2015 völlig unvorbereitet traf, hatte eine Stärke von 7,8 auf der Richterskala. Es war das heftigste Erdbeben in Nepal seit mehr als 80 Jahren, mehr als eine halbe Million Häuser und Wohnungen wurden zerstört, mindestens 9000 Menschen starben.
Wenige Sekunden entscheiden
Wenn die Erde anfängt zu wackeln, dann entscheiden oft Sekunden über Leben und Tod. "Fünf bis zehn Sekunden machen einen großen Unterschied aus", erklärt Louis Schreier im DW-Gespräch. "Das reicht, um Krankenhäuser zu warnen, Rettungskräfte vorzubereiten und letztlich auch Menschenleben zu retten."
Schreier ist Ingenieur und arbeitet für das Innovationslabor, das die Deutsche Telekom im kalifornischen Silicon Valley betreibt. Zusammen mit den Erdbebenforschern der University of California in Berkeley (UCB) haben er und sein Team ein Programm entwickelt, das in naher Zukunft helfen soll, die Zahl der Erdbebenopfer zu reduzieren: die Handy-App My Shake.
Offiziell vorgestellt wird das Programm auf dem am kommenden Montag beginnenden Mobile World Congress in Barcelona. Die öffentliche Testphase hat vor einigen Tagen schon begonnen und läuft jetzt ein Jahr.
"Wir wollen vor allem zeigen, dass ein Netz aus Smartphones hochwertige Signale aufzeichnen kann, die mit denen aus den professionellen Frühwarnzentren mithalten können", sagt Schreier. Denn auch wenn die Sensoren in den Telefonen weniger empfindlich sind, gleicht allein die Masse an Smartphones das Problem wieder aus.
Sensoren zur Erkennung von Erdbeben nutzen
Das Prinzip hinter My Shake ist einfach: Moderne Smartphones sind voller Sensoren. My Shake greift permanent auf die Beschleunigungssensoren des Geräts zu, die sonst etwa zum Aufzeichnen von Schritten für Fitness-Apps genutzt werden, und registriert im Hintergrund kaum wahrnehmbare Erschütterungen.
Entsprechen diese Daten dem Schwingungsprofil eines Erdbebens, und nicht etwa dem Rütteln in der Hosentasche, dann werden Zeit, Ort und die Amplitude der Erschütterung anonym an einen Server der UCB gemeldet und dort weiter analysiert. Melden sich mindestens 60 Prozent der Smartphones, die sich in einem bestimmten Radius um die Erschütterungen befinden, dann geht die Software von einem Erdbeben aus.
Bisher kann die App noch nicht viel mehr, als das aufkommende Beben zu erkennen. "In den nächsten Jahren soll unser System mit bestehenden Frühwarnsystemen kombiniert werden", sagt Louis Schreier. "Mit dem Ziel, die Menschen zu warnen, auch über ihre Telefone, und so Leben zu retten."
Nutzen für die Gesellschaft
Das Innovationslabor in Kalifornien gibt es schon seit einigen Jahren. Finanziert wird die Forschungseinrichtung über die Bonner Telekom-Zentrale. "Smartphones sind so stark verbreitet wie kein anderes Gerät auf der Welt", sagt Husam Azrak, Pressesprecher der Telekom, zur DW. "Die App nutzt die vorhandene Technik, hilft bei der Früherkennung von Erdbeben und hat gesellschaftliche Relevanz."
Louis Schreier hofft, dass My Shake vor allem in erdbebengefährdeten Ländern zum Einsatz kommt, die bisher kein großes, professionelles Frühwarnsystem haben. Nepal wäre so ein Beispiel. "Im Grunde tragen wir die gleichen Sensoren mit uns rum wie die in den staatlichen Früherkennungsstationen. Nur sind die Kosten für unser seismisches Netzwerk viel geringer, also bauen wir dort eins auf, wo es noch keins gibt."
Schreier und sein Team binden die User aktiv in ihre Forschung ein. Citizen Science heißt das im Englischen, Bürgerwissenschaft. Sie fordern die Menschen auf, sich das Programm runterzuladen, Teil des Netzwerks zu werden und dadurch Daten zu liefern, die die Erkennungsraten langfristig erhöhen und bestehende Systeme verbessern.
"Die Öffentlichkeit soll Teil dieses Projektes sein, denn es wird in ihrem Interesse durchgeführt", sagt Schreier. "Das ist ein Programm für jeden, weil es jedem helfen kann."
Technische Voraussetzungen
Das Programm wurde in Kalifornien entwickelt und programmiert. Allein dort gab es im letzten Jahr mehrere tausend Erdbeben. Viele sind kaum spürbar und richten auch keine größeren Schaden an, aber die Region ist gefährdet.
In Kalifornien gibt es genug moderne Smartphones und eine gute Netz-Infrastruktur, um My Shake in den kommenden Monaten intensiv zu testen. Damit wird auch ein Grundproblem der App deutlich: Ein gutes Netz und ein modernes Telefon sind Voraussetzungen, um damit Leben zu retten.