Das Problem Afghanistan ist ein internationales
23. Mai 2005
Anti-amerikanische Demonstrationen, die Ermordung von Mitarbeitern der Hilfsorganisationen und Entführung einer Italienerin waren die jüngsten Schlagzeilen aus Afghanistan. Steinigung wegen Ehebruchs, Korruption auf allen Staatsebenen, Willkür der Behörden und anti-amerikanische Demonstrationen gehören zum Alltag. Die Rede ist nicht von dem Afghanistan der Taliban-Zeit. All das passiert heute - im vierten Jahr nach dem Sturz des radikal-islamischen Regimes.
Die Opium-Produktion im "befreiten Afghanistan" erreicht Rekordmengen, fast täglich kommen unschuldige Menschen ums Leben, die in den Kampf der amerikanischen Truppen gegen versprengte Taliban-Gruppen verwickelt werden. Oft gibt es für einen ermordeten afghanischen Zivilisten ganze 300 Dollar Entschädigung.
Stimmt es also, dass fast vier Jahre nach dem Sturz der Taliban in Afghanistan keine Besserung der politischen und wirtschaftlichen Lage eingetreten ist? "Nein, ganz im Gegenteil", sagt der afghanische Politik-Experte Assdullah Walwalgi. Für ihn zählen nicht nur die Schlagzeilen in den Medien. Er zeichnet ein ganz anders Bild der letzten vier Jahre.
"Die Lage in Afghanistan wendet sich von Tag zu Tag mehr zum Positiven. Wenn auch die Regierung von Präsident Karsai fast eine Zuschauerrolle eingenommen hat, tragen die Menschen im Land und insbesondere die internationalen Truppen viel dazu bei, dass das Leben in Afghanistan wieder erträglich geworden ist."
Exilanten denken anders
Walwalgi warnt vor voreiligen Schlüssen. Natürlich habe sein Land viele Probleme, doch es werde auch gegen diese Missstände gearbeitet. Nach 23 Jahren Krieg habe Afghanistan endlich eine Zukunftsperspektive. Die neue, zum größten Teil demokratische Verfassung des Landes, die Präsidentschaftswahlen und eine für das Land beispiellose Pressefreiheit - für Walwalgi sind das die großen Erfolge nach dem Sturz der Taliban.
Walwalgis Ansicht teilen viele im Land lebende Intellektuelle und politische Akteure. Sie alle bewerten die Zeit nach dem Taliban-Sturz positiv, auch wenn sie der Regierung von Karsai Missmanagement vorwerfen.
Afghanische Intellektuelle aber, die sich noch im westlichen Exil befinden, sind zum Teil ganz anderer Meinung. Wie zum Beispiel Saburullah Siasang, ein führender Intellektueller aus Kanada. "In Afghanistan herrscht eine unrechtmäßige Regierung von Amerikas Gnaden."
Ähnlich wie er lehnen es viele gebildete Afghanen im Westen ab, in ihre Heimat zurückzukehren und beim Wiederaufbau des Landes mitzuhelfen. Sie wollen nicht in einem besetzten Land arbeiten. Doch dieser Streit der Intellektuellen ist für die afghanische Bevölkerung bedeutungslos. Für sie gilt: Wer uns den Frieden bringt, den akzeptieren wir. Auch den labilen Frieden der letzten Jahre schätzt das Volk sehr. Dass der Wiederaufbau des Landes trotz aller Fehlplanungen ihre wirtschaftliche Lage verbessert hat, verbinden sie mit dem militärischen und zivilen Einsatz der internationalen Gemeinschaft in Afghanistan.
Selbst im Osten des Landes, wo es vor kurzem blutige anti-amerikanischen Ausschreitungen gab als Reaktion auf einen - inzwischen zurückgezogenen - "Newsweek"-Artikel über angebliche Koranschändungen in Guantanamo, wollen die Menschen, dass die internationalen Truppen im Land bleiben. Mirghulam Talasch, ein Lokalreporter aus Dschalalabad resümiert: "Die Leute sind mit der Präsenz und den Wiederaufbauhilfen der Amerikaner zufrieden."
Eine Frage der Alternativen
Für den Politik-Experten Walwalgi gibt es zurzeit keine Alternative zur engen Zusammenarbeit zwischen Afghanistan und der internationalen Gemeinschaft. Dass in Afghanistan Schulen, Universitäten, Krankenhäuser, Fabriken und Straßen keine Terroristenlager gebaut werden, zeige, dass die Arbeit in und für Afghanistan nicht umsonst gewesen sei.
Daran, dass die internationale Gemeinschaft Afghanistan vielleicht bald wieder vergessen könnte, will er nicht glauben. "Das Problem Afghanistan ist ein internationales. Falls die internationalen Truppen Afghanistan verlassen sollten, würden wir zur Ausgangssituation zurückkehren. Die Lage würde sich im Nu verschlechtern. Bandenkriege und Terroristen würden wieder den Alltag bestimmen."