Das Mädchen Reem
17. Juli 2015Zwölf Minuten - soviel Zeit nimmt sich die Kanzlerin normalerweise selten für einen einzelnen Gesprächspartner. Doch der 14-jährigen Reem gelang es beim Bürgerdialog, Merkels Interesse zu wecken. Schüchtern und zugleich sehr offen und strahlend begegnete die Schülerin der mächtigsten Politikerin der Welt.
Reem war eine von 30 Schülerinnen und Schülern, die beim Bürgerdialog mit Angela Merkel über ihre Lebensvorstellungen sprechen sollen. Als der Moderator die 14-Jährige bat, über ihr Leben zu erzählen, schwärmte sie als erstes davon, wie gut es ihr an der Paul-Friedrich-Scheel-Schule gehe. "Das war ziemlich leicht, sich hier zu integrieren, weil die Lehrer und die Schüler ziemlich nett zu mir waren", erzählte das Mädchen.
Bis dahin passten die Schilderungen der 14-Jährigen gut zum Titel des Bürgerdialogs "Gut leben in Deutschland". Das Konzept der Veranstaltungsreihe hat sich Merkel selbst überlegt, um auf direktem Wege mit den Bürgern zu sprechen.
Angst vor der Abschiebung
Die junge Reem strahlt die Kanzlerin weiter an, obwohl sie über Dinge spricht, die sie von ihren Mitschülern existenziell unterscheiden: Sie ist ein Flüchtlingskind. 2011 hat sie zusammen mit ihrer Familie den Libanon verlassen und ist nach Deutschland geflohen. Schon der Libanon war nicht Heimat, sondern Fluchtort für die Familie. Die stammt aus den palästinensischen Gebieten, wo Krieg und Armut Alltag sind.
In Deutschland dann: Behördengänge und ein Asylantrag. jahrelanges Warten auf eine Entscheidung der Ämter. Immer begleitet von der Angst, abgeschoben zu werden. Eine Sorge, die die Schülerin auch mit in die Schule nimmt: "Wir hatten in der letzen Zeit eine richtig schwere Zeit, weil wir kurz davor standen, abgeschoben zu werden. Mir ging es hier in der Schule richtig schlecht, das haben die Lehrer und Schüler mitgekriegt", erzählt Reem der Kanzlerin. "Und jetzt?", will Merkel wissen. Jetzt sei eine Genehmigung da, mit der die Familie vorerst bleiben dürfe. "Wir warten auf eine Entscheidung der Ausländerbehörde."
Früh erwachsen
Was Reem als Kind erlebt hat, muss sie früh erwachsen gemacht haben. Und dann in Deutschland erlebt sie Bürokratie und Hindernisse. Sie erzählt, dass sie mit ihren Elten nach Berlin gefahren ist, zur libanesischen Botschaft, um die Pässe abzuholen. Sie spricht nicht nur fließend Deutsch, Arabisch, Englisch, ein bisschen Schwedisch und "nächstes Jahr Französisch", sie versteht auch Amtsdeutsch, weil das die Sprache ist, die sie in ihrer neuen Heimat als erstes lernen musste.
Als die Bundeskanzlerin ihr erklärt, dass ein neues Bleiberecht bereits auf dem Weg ist - "Wir wollen ein beschleunigtes Verfahren machen, von dem Du vielleicht auch profitieren könntest"; als die Kanzlerin von vollen Flüchtlingslagern im Libanon spricht, in denen Menschen seit "25 Jahren leben"; von Flüchtlingen aus Kriegsgebieten, deren Asylanträge Vorrang hätten, sagt Reem nur: "Das ist verständlich."
Krieg und Unsicherheit
Das ist verständlich, weil das die Lebenswirklichkeit des Mädchens ist. "Ich hatte viel mit Krieg und Unsicherheit zu tun und deswegen bin ich auch froh, hier zu sein, weil es hier viel sicherer ist", sagt das Mädchen am Tag des Bürgerdialogs im Gespräch mit Journalisten der ARD. "Solange ich hier bin, werde ich die Angst zwar in mir behalten, aber es wird immer besser", ergänzt sie in dem Interview.
Reems Schicksal teilen rund 30 Millionen andere Kinder und Jugendliche, die nach Schätzungen der christlichen Kinderhilfsorganisation World Vision weltweit auf der Flucht sind. Sie kennen das Gefühl von Heimat- und Hoffnungslosigkeit.
Fehlende Zukunftsperspektiven, auch die Teenagerin aus Rostock kennt das nur zu gut: "Mich beschäftigt die Frage, wie meine Zukunft aussieht. Ich lebe zwar jetzt hier, aber solange ich nicht weiß, dass ich hier bleiben kann…" Sie habe Ziele, wie jeder andere, erzählt Reem der Kanzlerin. "Ich möchte studieren. Es ist wirklich sehr unangenehm, zuzusehen, wie andere das Leben genießen können und man selber es nicht mitgenießen kann."
Rostocker Bürgermeister gegen Reems Abschiebung
Und dann passiert etwas, wofür im harten Alltag einer Realpolitikerin, wie Merkel eine ist, normalerweise überhaupt kein Raum ist: Gefühle brechen durch. Reem weint. Zu groß ist der Druck, unter dem sie steht, zu belastend die Ungewissheit, mit der sie lebt. Die Kanzlerin braucht ein paar Sekunden, weil sie kurzfristig überfordert ist. Dann sagt sie "Ach, komm", verlässt das Podium, geht zu Reem und streichelt ihr die Schulter.
Das war am Mittwoch, am Donnerstag löste Merkels Reaktion unter dem Hashtag #Merkelstreichelt eine Welle in den sozialen Medien aus. Inzwischen darf Reem hoffen, dass sie und ihre Familie dauerhaft in Deutschland bleiben dürfen. Der Rostocker Oberbürgermeister Roland Methling will sich nach Berichten des Berliner "Tagesspiegel" dafür einsetzen, dass Reems Familie und andere Asylbewerber, die viele Jahre auf eine Entscheidung gewartet haben, nach Möglichkeit zunächst nicht abgeschoben werden.