"'Das Kapital' basierte auf einem Denkfehler"
13. September 2017DW: Herr Ziesemer, 2012 hat die FAZ eine Buchreihe herausgegeben, um die großen Ökonomen dem Otto-Normal-Verbraucher näherzubringen. Ausgerechnet Sie als Marktliberaler haben den Part für Karl Marx übernommen. Wie kam es dazu?
Ziesemer: Das hat zwei Gründe. In meiner Jugend bin ich kein Marktliberaler gewesen, sondern Kommunist und habe damals Karl Marx mit der ideologischen Brille eines Linken gelesen. Ich habe mich dann tatsächlich zu einem Liberalen und Konservativen entwickelt und hatte immer vor, mich noch mal mit den Büchern zu beschäftigen, die ich in meiner Jugend gelesen hatte. Und das habe ich dann auch getan. Da habe ich damals der FAZ gesagt: Ich bin wahrscheinlich einer der wenigen Menschen in Deutschland, die die Hauptwerke von Karl Marx zwei Mal gelesen haben.
In China habe ich im Schulfach Politische Ökonomie gelernt, dass der Arbeiter seine Arbeitskraft an den Kapitalisten verkauft und dafür einen Lohn bekommt. Die Differenz zwischen dem Wert, den er geschaffen hat und dem Lohn ist der Mehrwert. Der Kapitalist versucht, den Lohn so niedrig wie möglich zu halten, um den Mehrwert zu maximieren. Diese Ausbeutung wird irgendwann so unerträglich, dass die Arbeiter rebellieren und den Kapitalismus stürzen. Ist das eine grobe Inhaltsangabe des "Kapitals"?
Ja, das könnte man sagen, wenngleich "Das Kapital" ein unglaublich weit verzweigtes Werk ist. Aber die Hauptthese des "Kapitals" ist in der Tat, dass die Arbeiter ausgebeutet werden, dass es auch keinen Ausweg gibt, sondern nur die Revolution. Als Karl Marx "Das Kapital" schrieb, hatte er zwei Ziele: Er wollte die klassische Ökonomie in einem Kernpunkt widerlegen und er wollte der Arbeiterbewegung eine theoretische Grundlage für den Sturz des Kapitalismus schaffen.
Marx hatte tatsächlich zeit seines Lebens auf den Zusammenbruch des Kapitalismus gewartet. Und er hat den Sieg des Kommunismus prophezeit. Beides ist nicht eingetreten. Wo lag sein Denkfehler?
Ich glaube, seine ganze Theorie basiert auf einem Denkfehler. Er hat die Arbeit als einzige Quelle des Wertes gesehen und dabei übersehen, dass der Kapitalismus nicht durch die Ausbeutung der Arbeiter, sondern durch einen fortlaufenden, technischen Fortschritt funktioniert. Er hat die anderen Quellen des Reichtums, nämlich die Innovation, die Unternehmerinitiative und den technischen Fortschritt im Kern seiner Theorie unterschätzt. Interessanterweise gibt es Passagen im "Kapital" oder auch im "Kommunistischen Manifest", wo er darüber spricht, dass der weltweite Siegeszug des Kapitalismus dazu führen wird, dass alles Althergebrachte und alle feudalistischen Überreste verschwinden werden. Ich habe deshalb die These gewagt, dass wir Karl Marx als den ersten, wirklichen Theoretiker der Globalisierung begreifen können.
Wäre aus Karl Marx ein besserer Ökonom geworden, wenn er sich nicht auch als einen praktizierenden Revolutionär gesehen hätte?
Er hat praktisch drei Leben geführt. Das wichtigste dieser drei Leben war für ihn das Leben eines Revolutionärs. Er war zweitens Ökonom und drittens Philosoph. Er hat bei der Arbeit an dem "Kapital", die sich über zehn Jahre hingezogen hat, irgendwann gemerkt, dass er sich verrannt hat, dass er den großen Wurf nicht hinbekam. Man darf nicht vergessen, dass "Das Kapital" auf drei Bände angelegt war, aber nur der erste Band während seiner Lebzeiten erschienen ist. Den zweiten Band hat Friedrich Engels auf Grund der Vorarbeiten einigermaßen hinbekommen, der dritte ist eigentlich nur ein Sammelsurium nicht ausformulierter Gedanken. Insofern gibt es in Wahrheit kein geschlossenes, ökonomisches Werk von Karl Marx.
Stimmt das, das er nicht mal Geld für das Porto hatte, als er den ersten Teil des "Kapitals" an den Verleger schicken wollte?
Richtig. Er hat in Briefen an Engels oft geschrieben: Der Fleischer steht vor der Tür und will seine Rechnung beglichen haben, und wir haben keinen einzigen Schilling mehr im Hause. Und wenn Du mir nicht sofort Geld schickst, dann muss ich in den Schuldturm. Auch als er "Das Kapital" schrieb, hatte er sehr wenig Geld zur Verfügung. Seine ökonomische Lage änderte sich erst später, als Engels das Erbe seiner Familie antreten konnte und Marx praktisch eine Art Rente aussetzte. In den letzten Lebensjahren konnte Marx mit einem relativ sicheren Einkommen kalkulieren, aber dazwischen gab es diese Phasen bitterster Armut.
Er hätte bestimmt nicht ahnen können, dass er 150 Jahre nach der Veröffentlichung seines "Kapitals" noch in einem weit entfernten Land verehrt wird. Sein Portrait hängt immer noch auf dem Tiananmen-Platz in Peking. Wie beurteilen Sie seine Rolle in China?
Ich glaube, dass sich der chinesische Marxismus in weiten Teilen ohne genaue Kenntnis des Werks von Karl Marx entwickelt hat. In den Frühzeiten der Kommunistischen Partei Chinas spielte meines Erachtens vieles von Marx gar keine Rolle. Seine Werke lagen zum Teil auch nicht in Übersetzungen vor. Mein Eindruck ist, dass die Verehrung von Karl Marx in China vorhanden ist, dass sie aber nicht auf einer weit verbreiteten Kenntnis seines Werks beruht.
Sollen Studenten der Volkswirtschaft "Das Kapital" lesen? Wie aktuell ist Karl Marx?
Man muss Karl Marx nicht lesen, um ein guter Ökonom zu werden. Die meisten seiner Theorien sind durch die Zeit überholt worden beziehungsweise waren von Anfang an falsch. Aber es lohnt sich immer noch, Karl Marx zu lesen, weil es eine Fülle interessanter Gedanken gibt. Ich würde jedem Ökonomen oder jedem gebildeten Menschen empfehlen, Karl Marx zu lesen. Ob das unbedingt "Das Kapital" sein muss, weiß ich nicht, weil das Werk gerade in den ersten Kapiteln eine sehr trockene und langweilige Lektüre ist. Ich würde eigentlich den Leuten immer empfehlen, "Das kommunistische Manifest" zu lesen. Es ist sehr gut geschrieben und gehört zum Kanon der Literatur in Deutschland. Also das würde ich eher empfehlen als "Das Kapital".
Das Interview führte Zhang Danhong.
Bernd Ziesemer war von 2002 bis 2010 Chefredakteur der Wirtschaftszeitung "Handelsblatt". Heute ist er Buchautor und Kolumnist. 2012 erschien von ihm "Karl Marx für jedermann".