Das Kajakfahren verleiht Al Khalifa neue Kraft
1. September 2021Es ist ein warmer und sonniger Tag im August. Anas Al Khalifa trainiert auf dem Fluss Saale, der durch die Stadt Halle fließt. 2011 floh der heute 28-jährige Syrer vor dem Krieg in seinem Heimatland. Vier Jahre später erreichte er Deutschland. Wenn man ihn dabei beobachtet, wie er mit gleichmäßigen Schlägen und einem konzentrierten Blick durch das ruhige Wasser gleitet, ist es schwer zu glauben, dass er erst seit weniger als einem halben Jahr auf dem Wasser trainiert. Es würde wohl auch niemand glauben, dass er im Rollstuhl sitzt.
Vor gar nicht allzu langer Zeit hatte Al Khalifa noch keinerlei körperliche Einschränkungen. An einem regnerischen Tag im Dezember 2018 fiel Al Khalifa dann beim Installieren einer Solaranlage vom Dach eines zweistöckigen Gebäudes und erlitt eine Querschnittslähmung. "Nach dem Unfall wusste ich nicht, was ich machen soll", sagte Al Khalifa der DW. "Ich konnte weder laufen noch arbeiten, mein Leben war vorbei. Aber dieser Sport hat mein Leben verändert. Die Behinderung ist nur in deinem Kopf. Man kann auch ohne Beine oder Arme alles machen. An meiner Seite waren immer gute Menschen."
Eine dieser besonderen Personen ist Ognyana Dusheva. Die bulgarische Olympiamedaillen-Gewinnern war schon in sieben Ländern Kajak- und Kanu-Trainerin, darunter in der Türkei, im Iran, in China. Vor einem Jahr traf die 57-Jährige Al Khalifa in dem Kanu-Klub, in dem sie als Para-Trainerin arbeitete. Sein Physiotherapeut hatte Al Khalifa dazu ermutigt, das Kajakfahren auszuprobieren. "Ich sah einen starken Jungen im Rollstuhl mit sehr traurigen Augen. Da war nichts. Ich fragte ihn: 'Willst du mit mir Sport machen? Kajak? Es ist ein Boot; ich kann dich fit machen für Tokio' 'Was ist Tokio?', fragte er. Ich sagte: 'Es sind die Olympischen Spiele, sie sind jedermanns Traum.'"
Erfolge trotz minimaler Ressourcen
Ende Juni, circa ein Jahr nachdem er zum ersten Mal in einem Kajak saß, wurde Al Khalifa bereits ins Flüchtlingsteam für die Paralympischen Spiele in Tokio berufen. Die fünf Männer und eine Frau stammen aus Afghanistan, Burundi, Iran und Syrien. Sie treten in vier Sportarten an - Leichtathletik, Schwimmen, Kanufahren, Taekwondo - und leben und trainieren zur Zeit in Deutschland, Griechenland, Ruanda und den USA.
Al Khalifa trainiert dreimal am Tag, an sieben Tagen in der Woche, um sein Ziel zu erreichen. Sein Trainingspensum ist so intensiv, dass er jeden Abend eine Nacken- und Rückenmassage braucht. Die ist im Rahmen des Deutschen Para-Kanu-Teams kostenlos möglich, aber: Die meisten anderen Ausgaben muss Al Khalifa selbst bezahlen.
Bis jetzt habe er eine Einmalzahlung von 2000 Euro von einem Sponsor erhalten sowie 1000 Euro im Monat für ein Jahr, sagt Dusheva. Es ist nicht ungewöhnlich, dass Para-Athleten im deutschen Nationalteam mehrere Langzeit-Sponsoren haben. "Ich brauche Proteine, Vitamine und andere Dinge, um auf einem hohen Niveau konkurrieren zu können", sagt Al Khalifa. "Mein Wunsch ist es, wie die anderen Athleten und Athletinnen behandelt zu werden."
Aber von fairen Wettbewerbsbedingungen kann keine Rede sein. Im Gegensatz zu den deutschen Para-Athleten und -Athletinnen, die sich auch auf Tokio vorbereitet haben, musste Al Khalifa aufgrund der Pandemie sein Training auf dem Wasser ein halbes Jahr lang aussetzen. Erst Ende März ging es weiter - nur fünf Monate vor seinem Wettkampf in Tokio. "Ich kann nicht in Worte fassen, was Anas geleistet hat. Nicht ein einziges Mal sagte er mir, es sei zu viel. Niemand Anderes hätte schaffen können, was er erreicht hat."
In vier Jahren von Syrien nach Deutschland
Nach seinem Training fährt Al Khalifa stets zu seiner kleinen Wohnung, die er mit seiner Schwester und deren zwei Kindern teilt. Sie serviert syrische Speisen, danach Baklava und Knafeh zusammen mit arabischem Kaffee. Ansonsten erinnert in dem Apartment nicht viel an ihr Heimatland. Die Familie musste alles zurücklassen, als sie vor zehn Jahren vor dem Krieg floh. Nach zwei Jahren in einem Lager für Internally Displaced People (IDPs) floh Al Khalifa in die benachbarte Türkei, wo er als Obstpflücker arbeitete. Letztlich schaffte er es von der Türkei über Griechenland nach Deutschland. Er war sich nicht sicher, ob er die 31-tägige Irrfahrt überleben würde.
Er erinnert sich an den waghalsigen Versuch in einem überfüllten Boot von der Türkei zu einer griechischen Insel übersetzen. "Bis das Benzin ausging", sagt Al Khalifa und hat dabei einen Kloß im Hals. "Die Wellen schaukelten das Boot von links rechts. Nach 30 Minuten sagte einer der Jungen auf dem Boot: 'Die Männer müssen ins Wasser springen.' Wir hatten keine Wahl. Nur die Frauen und Kinder blieben an Bord." Der Junge schaffte es, den Motor wieder in Gang zu setzen. Und die Menschen auf dem Boot schafften es dann, sich in Sicherheit zu bringen. "Als uns der Sprit ausging, dachten wir alle, wir würden sterben", so Al Khalifa. "Niemand hätte unsere Schreie und unser Weinen auf dem Wasser gehört."
Verheerende Nachrichten, neue Motivation
Al Khalifas Lebens-Anker war immer auch sein Bruder Abdul Malik. Mit ihm konnte er reden und sich ihm anvertrauen. Doch vor acht Monaten starb Abdul Malik in Syrien. Anas Al Khalifa war am Boden zerstört. Das letzte Mal dass die beiden sich sahen war 2011, als sich die Familie trennen musste.
"Es war ein Schock für mich, weil Anas ein Talent ist und sein Leben mit dem Boot verändern kann", sagt Dusheva. "Ich sagte zu ihm: 'Du musst weitermachen, weil dein Bruder diesen Sport liebte. Er wird da sein im Himmel und dich beschützen und dir bei allem helfen. Du musst für ihn weitermachen.'" Danach haben Trainerin und Athlet weitergemacht. "Ende März haben wir dann wieder mit dem Training begonnen. Die ganze Zeit spürte ich, dass diese neue Kraft und Motivation fürs Training von seinem Bruder kam. Anas will sein Bestes geben und sagen: 'Bruder, ich habe es für dich getan'", sagt Dusheva.
Al Khalifa schaffte es seinen Traum von der Teilnahme bei den Paralympischen Spielen zu erfüllen. Am Donnerstag tritt er zu seinem Rennen an. "Mein erstes Ziel in Tokio ist es, eine Medaille zu gewinnen", sagt er. "Das zweite Ziel ist es, für meinen Bruder zu gewinnen. Er hat mich unterstützt."
Nach Tokio hat Al Khalifa die Kanu-WM Mitte September im Blick. Sein nächstes großes Ziel sind die Paralympischen Spiele 2024 in Paris, bei denen er für die deutsche Nationalmannschaft antreten möchte.