Synthetischer Kautschuk
23. Dezember 2009
Lange Zeit war alles ganz natürlich. In Südamerika wuchsen Bäume, aus denen quoll, wenn man ihre Rinde ritzte, ein milchiger Saft. Die Ureinwohner sollen diese Pflanze "ca-hu-chu“ genannt haben, was soviel bedeutet wie "weinendes Holz". Sie trockneten die klebrige Milch und stellten daraus Schläuche, Gefäße, wasserdichte Kleidung und Kultfiguren her, außerdem hüpfende Bälle für allerlei Spiele.
Ab dem frühen 16. Jahrhundert berichteten die ersten Europäer über den Kautschuk und die seltsamen Ballspiele der Indianer. Seitdem suchte man nach einer vernünftigen Nutzung des Stoffes. Doch außer Radiergummis und ersten Regenmänteln fiel auch den Europäern nichts ein.
Goodyears Gummi
Populär wurde Kautschuk nicht - bei Hitze fing er an zu kleben, bei Kälte wurde er spröde. Das änderte sich erst 1839, als dem Amerikaner Charles Goodyear die Vulkanisation gelang. Goodyears Gummi war temperaturbeständiger, elastisch, reißfest und behielt seine Form.
Doch so bedeutend die Erfindung war, eine wirklich spannende Verwendung dafür fand sich lange nicht. "Man machte in der Zeit Gummistiefel, Wärmflaschen, Regenmäntel für das Wetter in London. Das war nicht spannend", sagt Schuster, Chemiker und Leiter des Instituts für Kautschuktechnologie in Hannover. "Es begann spannend zu werden um 1880 mit der Erfindung des Automobils. Diese Kombination - Automobil und Luftreifen - machte den Kautschuk zu einem wirklich strategischen Material.“
Kautschuk-Barone und Samenräuber
Von der gestiegenen Nachfrage profitierten die sogenannten Kautschuk-Barone in Brasilien. Denn nur hier wuchs der begehrte Rohstoff. Die Folge: unermesslicher Reichtum für die Inhaber des Monopols. "Die Kautschuk-Barone ließen ihre Hemden in London waschen", beschreibt Robert Schuster die goldenen Zeiten. "Und sie ließen in Manaus im brasilianischen Dschungel ein prächtiges Opernhaus errichten. Das ist ausschließlich mit europäischen Materialien gebaut worden - Marmor aus Italien etc.“
Die Abhängigkeit vom Kautschuk-Monopol missfällt den Industriestaaten. Einem Engländer gelingt es, rund 70.000 Samen des Kautschuk-Baums aus Brasilien zu schmuggeln, also zu stehlen. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wird Kautschuk dann im großen Stil in den britischen Kolonien in Südostasien angebaut, noch heute sind die Länder dieser Region die wichtigsten Produzenten.
Das Monopol Brasiliens kann so zwar durchbrochen werden. Doch die Abhängigkeit von wenigen Quellen bleibt, außerdem große Schwankungen bei Preis und Qualität. Eine Frage gewinnt zunehmend an Bedeutung: Lässt sich Naturkautschuk durch eine künstlich hergestellte Alternative ersetzen?
Hofmanns Erfindung
Diese Frage stellte man sich auch in den Elberfelder Farbenfabriken Friedrich Bayer, aus denen später die Bayer AG wurde. Der Vorstand schreibt sogar einen Geldpreis für seine angestellten Chemiker aus. Mit Erfolg: Fritz Hofmann gelingt 1909, nach jahrelangen Versuchen, die künstliche Herstellung von Kautschuk. "Man kann die Erfindung von Fritz Hofmann nicht hoch genug werten, denn erstmals ist es möglich, mit einem Stoff aus dem Labor ein Naturprodukt zu imitieren", sagt der Chemiker Robert Schuster. "Und es ist auch kein Wunder, dass das in Deutschland erfunden wurde. Die deutsche Chemie hat schon seit Mitte des 19. Jahrhunderts eine Vorrangstellung in der Welt gehabt."
Dank Hofmanns Erfindung lassen sich erste Testreifen aus Methylkautschuk herstellen, außerdem Hartgummi für die deutsche U-Boot-Flotte im ersten Weltkrieg. Doch der große Durchbruch lässt auf sich warten. Hofmanns Verfahren ist zu aufwendig für die Massenherstellung, allein der Syntheseprozess dauert Wochen.
BUNA für den Krieg
Das ändert sich erst Ende der 20er-Jahre, als dem Chemiker Walter Bock eine Weiterentwicklung von Hofmanns Erfindung gelingt - ein Kautschuk aus Butadien und Natrium, kurz BUNA. Die Nationalsozialisten, die 1933 in Deutschland die Regierung übernehmen, erkennen sofort das Potential des neuen Gummis. Hitler lässt Autobahnen und den Volkswagen bauen, jetzt fehlen noch die passenden Reifen.
Ab 1936 wird Buna massenhaft produziert. Dahinter steckte auch politisches Kalkül, denn Deutschland bereitete sich auf den Krieg vor. "Schon kurz nach der Machtübernahme kokettierten die Nationalsozialisten mit dem strategischen Wert dieses Werkstoffes", sagt Robert Schuster. "Man weiß, dass man in einem Engpass ist, dass man möglicherweise an den Naturkautschuk nicht herankommt - der ist im Zweifelsfall immer noch in den Händen von Engländern, Franzosen oder anderen. Und man möchte sich davon frei machen."
Denn für den Krieg braucht Deutschland Reifen - für Militärfahrzeuge, Motorräder und LKW. Später wird sogar ein Buna-Werk im Konzentrationslager Auschwitz gebaut, allerdings nie fertig gestellt. Auch die USA sind sich der kriegswichtigen Bedeutung von Kautschuk bewusst und bauen eigene Buna-Fabriken auf. Das Buna-Patent wird auf Kongress-Beschluss für die USA freigegeben. Einmal mehr verhilft der Krieg einer technischen Entwicklung zum Durchbruch.
Nachfolger Lanxess
Von all der Dramatik ist nichts zu spüren, wenn man heute die Firma Lanxess besucht. Sie ist 2004 aus der Chemiesparte des Bayer-Konzerns entstanden und einer der größten Hersteller von synthetischen Kautschuken weltweit. Mit den Nachfolgern des Stoffes, den Fritz Hofmann vor 100 Jahren erfand, macht Lanxess heute die Hälfte seines Umsatzes.
Die Produktionsstraßen im Werk Dormagen sind hunderte Meter lang. Flüssiggase aus eigener Herstellung rauschen durch lange Rohre. In großen Tanks wird gerührt, gekocht, abgeschöpft und getrocknet, alles maschinell, kaum ein Mensch ist zu sehen. "Der Prozess ist weitgehend vollautomatisch und benötigt wenig Personal", sagt Betriebsleiter Wolfgang Krumbe. "Die Mitarbeiter hier machen vor allem Kontrollgänge und prüfen die Anlage."
Puddingkochen für Chemiker
Heike Kloppenburg, die bei Lanxess in der Forschung arbeitet, bemüht sich um eine verständliche Erklärung dessen, was da in den Kesseln zusammengerührt wird. "Es ist wie zu Hause beim Puddingkochen", sagt die Chemikerin. "Am Anfang ist alles flüssig und später ist es fest. Aber anders als beim Pudding müssen wir dann noch das Lösungsmittel entfernen, während beim Pudding die Milch drin bleibt."
Der Prozess, bei dem aus Flüssiggasen künstlicher Kautschuk wird, nennt sich Polymerisation. Das ist ein chemisches Verfahren, bei dem einzelne Kohlenstoff-Moleküle zu langen Ketten zusammengefügt werden, die dann die Eigenschaft des Kautschuks bestimmen.
Am Ende spuckt eine Maschine etwa 30 Kilo schwere Gummiballen aus. Aus ihnen stellen die Kunden von Lanxess ihre Produkte her: Schuhsohlen, Kabelverkleidungen, Zahnriemen, Dichtungen - aber vor allem Autoreifen.
Denn die großen Reifenhersteller sind alle Kunden von Lanxess, sagt Heike Kloppenburg. "Wir sind der größte Produzent dieser Reifenkautschuke, haben aber keine eigene Reifenproduktion. Das ermöglicht es uns, frei mit den Kunden zu reden, weil es keine Konkurrenzsituation im Entwicklungsbereich gibt.“
Hoher Anspruch an Autoreifen
Moderne Reifen enthalten bis zu 20 verschiedene Gummimischungen, auch Naturkautschuk wird nach wie vor verwendet. Die Hersteller hüten ihre Rezepte wie Geheimnisse. Doch sie stehen alle vor der gleichen Herausforderung: Reifen sollen sich nur langsam abnutzen, gleichzeitig aber gut haften, wegen der Sicherheit. Außerdem muss der Rollwiderstand möglichst gering sein. Der nämlich hat Auswirkungen auf den Spritverbrauch. "Bei einem PKW macht das etwa 20 Prozent des Verbrauchs aus", sagt Didier Miraton, geschäftsführender Partner des Reifenherstellers Michelin. "Mit anderen Worten: Jede fünfte Tankfüllung ist für die Reifen. Bei LKW ist es noch mehr, da ist es jede dritte Tankfüllung."
Heute gibt es etwa 100 verschiedene Typen synthetischer Kautschuke, jeder mit besonderen Eigenschaften und Einsatzgebieten. Und die Entwicklung neuer Sorten ist längst nicht abgeschlossen. Allein der Kautschukbereich von Lanxess meldet jedes Jahr 20 bis 30 neue Patente an. Fritz Hofmann hätte sich darüber sicher gefreut. Der Erfinder des synthetischen Kautschuks starb 1956.
Autor: Andreas Becker
Redaktion: Zhang Danhong