Kunstvideo-Archiv
24. Juni 2009Marina Abramovic sitzt in der Galleria Studio 67 in Bologna. Seit 16 Stunden sitzt sie da - bewegungslos. Ihre Haare sind mit den Haaren ihres Partners Ulay verknotet. Sie sitzen Rücken an Rücken. Sie verharren eine weitere Stunde. Publikum darf jetzt zuschauen. Die Performance "Relation in Time" wird gefilmt. Es ist Oktober 1977.
Die Kopie einer Kopie
Ziemlich genau 19 Jahre später lädt ein Nutzer namens p13k einen Zusammenschnitt der Performance auf die Videoplattform YouTube. "Es ist die Kopie einer Kopie einer Kopie des offiziellen Künstler-Videos" schreibt p13k. Keine Ahnung, ob diese Erklärung sein Tun rechtfertigen soll. Was p13k gemacht hat, ist illegal. Er hat keine Rechte an dem Video. Er hat weder Marina Abramovic noch Ulay gefragt.
Dafür hat p13k aber nicht nur mir, sondern auch rund 55.072 Anderen einen Gefallen getan. Denn so oft wurde das kurze Video angeschaut. Es ist Teil des täglich rasant wachsenden und vermutlich größten Video-Archivs der Welt. Einige der vielleicht interessantesten Videos in diesem Meer aus Privatvideoquatsch und Fernsehschnipseln sind Kunst-Videos aus einer Zeit vor dem Internet.
Erschüttern, entzünden und zerplatzen
Wir können Andy Warhol beobachten, während er einen Burger isst oder Yoko Onos entblößtes Hinterteil betrachten. Es wackelt gut fünf Minuten lang in Großansicht - eine ihrer ersten Videoarbeiten: Four von 1966. Ein vergängliches Vergnügen. Denn sobald sich ein Rechteinhaber beschwert, verschwinden die Videoperlen aus dem Netz. Bis jemand anderes sie erneut einstellt und das Spiel von vorne beginnt.
Den Lauf der Dinge habe ich mir irgendwann mal in einem Museum angeschaut. Das ganze sieht aus wie das physikalische Experiment eines wahnsinnigen Professors, ist aber in Wahrheit eine ziemlich komplexe Installation des Schweizer Künstlerduos Fischli/Weiss von 1986-1987. Hier erschüttern, entzünden, verlaufen, zerplatzen und drehen sich 28 Minuten lang diverse Materialien.
16,8 Milliarden Videos
Ein Spektakel, das auf Video aufgezeichnet der Sammlung des Centre Georges Pompidou in Paris gehört. Einige Kultur-Fernsehsender haben das Video seit 1986 immer mal wieder gezeigt - meistens nachts. Seit Januar 2008 findet man es egal wann und egal wo auf der Welt bei YouTube. Die einzige Voraussetzung: ein Computer mit Internetzugang.
Man kann das wilde Video-Einstellen geißeln und verdammen. Man kann es begrüßen und als demokratischen Akt feiern. Verhindern kann man es nicht mehr. Im April 2009 wurden allein in den USA 16,8 Milliarden Videos im Internet angeschaut. YouTube ist und bleibt seit der Gründung 2005 die absolute Nummer Eins der Videoplattformen mit fast 40 Prozent Marktanteil.
Teenager und tanzende Koalabären
Zwischen Clips von alkoholisierten Teenagern und tanzenden Koalabären verstecken sich wahre Video-Perlen. Man muss sie nur suchen und kann sich daran ergötzen. Bevor es zu spät ist. Im März 2009 musste YouTube sämtliche Musikvideos der großen Musikfirmen entfernen. In Verhandlungen mit den Rechteinhabern konnte man keine Lösung bezüglich der Nutzungsrechte und Lizenzen finden.
Autor: Marcus Bösch
Redaktion: Sabine Oelze