Das Europa-Projekt
16. Juni 2013Jetzt, wo die Krise da ist, wo es im europäischen Gebälk knirscht und kracht, sind viele der Meinung, dass die Währungsunion schon immer eine schlechte Idee war. Die Einführung des Euro sei kein ökonomisches, sondern ein rein politisches Projekt gewesen, so das Argument. Das Ziel variiert je nach Erzählweise: Entweder sollte das wiedervereinigte Deutschland an die europäische Kette gelegt werden. Oder umgekehrt: Deutschland wollte den Euro, um so die europäischen Nachbarn unter seine Knute zu bringen.
Beides Mythen, beides falsch, sagt Harold James, britischer Historiker an der US-Universität Princeton, der den langen Prozess der Euro-Einführung untersucht hat. James sieht den Euro als Reaktion auf die starken Wechselkursschwankungen seit den 1970er Jahren.
Gründungsmythen
"Man hat gesagt: Wenn schon die Welt nicht stabil werden kann, dann kann zumindest Europa stabil werden, mit einer unabhängigen Notenbank", so James gegenüber der DW. "Das war dann auch die Voraussetzung für den Stabilitätsgedanken." Der Stabilitätsgedanke fand seinen Ausdruck in den Maastricht-Kriterien, die klare Obergrenzen für Haushaltsdefizit und Staatsverschuldung der Euroländer vorgaben. Allerdings haben sich viele Länder nicht daran gehalten - auch Deutschland und Frankreich nicht.
Gleichzeitig trieb die Europäische Kommission das wirtschaftliche Zusammenwachsen voran. Ziel war und ist es, dass in allen Euroländern die gleichen Regeln gelten. "Für den Binnenmarkt ist es ja ganz vernünftig, gleiche Bedingungen für alle zu erzeugen", so der Wirtschaftshistoriker Werner Abelshauser von der Universität Bielefeld gegenüber der DW. "Das steht aber in einem Konflikt mit der Tatsache, dass die Wirtschaftskulturen in Europa unterschiedlicher Art sind. Das heißt, was für die einen gut ist, ist für die anderen eher schlecht."
Sieben gegen 35 Billionen
Hinter unterschiedlichen Wirtschaftskulturen stehen für Abelshauser nicht Stereotype wie Fleiß oder Pünktlichkeit, sondern über einen langen Zeitraum gewachsene Strukturen. So sei es ein Unterschied, ob mittelständische Betriebe das Rückgrat der Wirtschaft bilden oder Großkonzerne. Und es mache auch einen Unterschied, ob es ein staatliches Gesundheits- und Rentensystem gibt oder nur private Vorsorge.
"In den USA haben wir keinen Sozialstaat. Das heißt, die Rentenanwartschaften müssen am Kapitalmarkt platziert und verwaltet werden", so Abelshauser. "Das sind 35 Billionen Euro, die da Anlage suchen." Die Pensionsfonds und Versicherungen, die diese Summe verwalten, disponieren sehr kurzfristig, denn sie stehen im ständigen Wettbewerb um das Vertrauen der Anleger. "Diese Kunden wollen sie jedes Vierteljahr mit neuen, noch besseren Zahlen beeindrucken. Das führt dazu, dass die Regeln am Kapitalmarkt sehr kurzfristig werden", so Abelshauser.
Das aber passe nicht zur deutschen Wirtschaftskultur. Hier gebe es rund sieben Billionen Euro an staatlichen Rentenanwartschaften, die überhaupt nicht auf dem Kapitalmarkt wirksam werden. Und für die meist mittelständischen deutschen Unternehmen wäre es besser, wenn der Kapitalmarkt längerfristige Perspektiven bieten würde, also etwa zehn Jahre statt ein Vierteljahr. "Aber genau das macht der Kapitalmarkt nicht", sagt Abelshauser. "Und so haben die deutschen kleinen und mittleren Unternehmen ein Problem mit den Regeln des Kapitalmarktes, die sich an den Bedürfnissen der angloamerikanischen Kundschaft orientieren."
Brüssels Schuld?
Auch der Umgang mit den europäischen Sparkassen sei ein Beispiel für den Schaden, den einheitliche Regeln anrichten können, so der Wirtschaftshistoriker. So wurde auf Drängen aus Brüssel die sogenannte Gewährträgerhaftung abgeschafft, ein mehr als 100 Jahre altes System, bei dem Kommunen für ihre Sparkassen hafteten.
Nach dem Wegfall mussten die Sparkassen nach neuen Geschäftsmodellen suchen. In Spanien hatte das dramatische Konsequenzen. "Dort haben sich verschiedene Sparkassen zu einem Konzern zusammengeschlossen, einer Aktiengesellschaft mit dem Namen Bankia", so Abelshauser. "Heute kennen wir das Ergebnis dieser Politik: Bankia ist pleite und ein großer Problemsektor der spanischen Wirtschaft. Das hängt damit zusammen, dass man hier versucht, sozusagen alles über einen Kamm zu scheren."
Vielleicht auch deshalb glauben viele Europäer laut einer Umfrage des Pew Research Center, dass ihnen das Zusammenwachsen Europas eher Nachteile gebracht hat. Nicht einmal jeder Dritte wünscht sich eine stärkere wirtschaftliche Integration in der Europäischen Union.
Teutonen gegen Lateiner
Für Werner Abelshauser wäre sogar ein Scheitern des Euro kein Drama. Feste, aber anpassbare Wechselkurse seien für Europa besser geeignet, so der deutsche Wirtschaftshistoriker. Sein britischer Kollege Harold James sagt dagegen, der Euro müsse erhalten werden, denn es sei schon zu viel in die gemeinsame Währung investiert worden. Im übrigen rät er zur Gelassenheit. "Die Debatten ähneln sich über lange historische Zeiträume", so James. "Man kann fast wörtlich Zitate aus den 60er oder 70er Jahren übernehmen. Schon damals haben Franzosen oder Italiener immer gesagt, Deutschland solle eine expansivere Politik machen und eine Lokomotive für die europäische Wirtschaft sein."
James verweist auch auf ein Zitat des britischen Ökonomen Walter Bagehot. Der Herausgeber des Magazins "The Economist" schrieb schon 1869 über mögliche Folgen eines europäischen Zusammenwachsens. Eine Gemeinschaftswährung für ganz Europa schien ihm nicht realistisch. Bagehot glaubte an den Wettbewerb zweier Währungen: hier das harte Geld der "teutonischen" Nordeuropäer, dort die Weichwährung der südlichen, "lateinischen" Staaten. Bagehots polemisches Fazit klingt heute, fast 150 Jahre später, seltsam aktuell: "Angesichts der kaufmännischen Aktivität der Teutonen und der relativen Schlaffheit der lateinischen Völker würde das teutonische Geld sicher bevorzugt."
Die Interviews für diesen Text wurden im Rahmen einer Veranstaltung der Akademie für Politische Bildung Tutzing geführt.