Auf den Spuren des Bayreuth-Mythos
28. Juli 2021Wie heißt es so schön im Volksmund: Andere Länder haben ihre Königshäuser, Deutschland hat Bayreuth. Bei den alljährlichen Richard-Wagner-Festspielen treffen sich die "Reichen und Schönen" und es gibt den neuesten Klatsch, was sich im wahrsten Sinne des Wortes hinter den Kulissen abspielt. Noch bevor der erste Ton erklingt und der Opernsaal komplett verdunkelt wird, hat die Sitznachbarin schon erzählt, welche Sänger gerade nicht gut bei Stimme sind oder wegen der Coronabeschränkungen kurzfristig nicht anreisen konnten.
Für hochrangige Politiker gehört ein Besuch der Festspiele zum guten Ton und für viele Sänger, Dirigenten und Dramaturgen ist es eine Ehre, in Bayreuth mitzuwirken. Deshalb gibt es in dem von Wagner 1876 fertiggestellten Festspielhaus vor allen Dingen eins: hochkarätige Inszenierungen. Und das ist wohl der Hauptgrund, warum tausende von Menschen jedes Jahr keine Wege und Mühen scheuen, um einmal den Mythos Richard Wagner in Bayreuth hautnah zu erleben.
Zum ersten Mal in Bayreuth wegen Corona
"Ich habe einfach versucht, online Karten zu bekommen und es hat direkt funktioniert". Silvie und Jeff aus Paris konnten es gar nicht fassen. Sie sind das erste Mal in Bayreuth und haben dafür extra ihren Korsika-Urlaub unterbrochen. Auch für den Argentinier Julio Correa Berger ist es das erste Mal. So merkwürdig es klingt, Corona hat es möglich gemacht. Weil viele ausländische Gäste ihren Besuch wegen der schwierigen Pandemielage abgesagt hatten, gab es einen Online-Direktverkauf von zurückgegebenen Karten.
Schon als 16-Jähriger war Julio von Wagners Musik begeistert. Mittlerweile hat er all seine Opern in den Konzerthäusern der Welt gehört. Der einzige Ort, der ihm noch fehlte, war Bayreuth. Mit 76 Jahren und schwer erkrankt, stand der Wunsch, einmal Wagners Wirkungsstätte zu besuchen, ganz oben auf seiner Liste. "Ich bin überglücklich. Hier ist alles so authentisch, so deutsch", sagt er begeistert in der Pause der "Meistersinger"-Inszenierung von Barrie Kosky.
"Wagner muss man sich erarbeiten"
Üblicherweise muss man sich in Bayreuth für Karten vormerken lassen und wartet oft viele Jahre bis es endlich klappt. Vier Jahre hat es bei Moritz gedauert. Der 28-Jährige aus Sachsen wurde durch seinen Großvater an Wagner herangeführt. "Für mich ist diese Mystik eine Mischung aus der Musik und dem Ort, verbunden mit meinen Kindheitserinnerungen an meinen Opa", sagt er. Seine Freundin Franziska hat sich auf das festliche Ereignis gefreut. "Ich bin einfach beeindruckt, wie Wagner ein solches Festspielhaus bauen konnte und dass es noch so ist wie früher." Die Anreise, die Karten, die Kleiderwahl bis hin zur Lektüre der Libretti, das erfordere eine lange Vorbereitung. Moritz hört sich vor jedem Konzertbesuch noch einmal Aufnahmen der jeweiligen Oper an.
Sven Friedrich, Direktor des Richard Wagner Museums, beschäftigt sich seit Jahrzehnten mit Wagner, seinem Leben, seinem Werk und seiner Ideologie. Wagner müsse man sich tatsächlich erarbeiten, sagt er im Gespräch mit der Deutschen Welle. Deshalb habe Wagner auch in Bayreuth gebaut. "Er wollte ja, dass die Menschen hierher kommen wie Pilger, sich von ihrem Alltag befreien, um ein intensives ästhetisches Erlebnis mitzunehmen."
Das umfasse nicht nur den Vorstellungsbesuch, sondern die ganze Atmosphäre. "Wenn man als junger Mensch mit Wagner in Berührung kommt, dann ist das wie ein Rauschen, wie eine Droge von der man nicht mehr lassen kann und lassen mag." Jemand, der sich solange mit dem Sujet beschäftige wie er, müsse eine professionelle Distanz entwickeln, um nicht wahnsinnig zu werden.
Wagner hat nicht nur Libretti geschrieben und komponiert, sondern auch gesellschaftspolitische Schriften verfasst. Mal für die Freiheit des Geistes, dann aber auch gegen jüdische Künstler, die er verunglimpfte. Sich nur mit der Musik und nicht mit Wagners Ideologie zu beschäftigen, reiche nicht aus, um Wagner wirklich zu erfassen, meint Friedrich.
Auf Schritt und Tritt Wagner
Wagner begegnet einem an vielen Orten in Bayreuth. Da ist etwa sein Stammlokal, die Eule, wo er in der Dämmerung gerne auf einen Schoppen Bier vorbeischaute, oder die Klaviermanufaktur Steingraeber & Söhne, wo Wagner seine Klaviere stimmen ließ. Im einstigen Wohnhaus "Villa Wahnfried" ist heute das Richard Wagner Museum untergebracht. Hier wurde er nach seinem Tod 1883 im eigenen Garten beigesetzt.
Dreh- und Angelpunkt ist natürlich das berühmte Festspielhaus, das nach Wagners Entwürfen und Klangvorstellungen gebaut wurde. Die harten Holzstühle tragen ebenso zur einmaligen Akustik bei wie die gesamte Holzkonstruktion und die säulenbesetzten fächerartigen Mauervorsprünge an den Seiten des Saales. Wer hier im Publikum sitzen will, muss leiden. Nicht nur die umständliche Abendgarderobe und unbequeme Schuhe machen vielen sichtbar zu schaffen, sondern auch die harten Sitze ohne Beinfreiheit.
Wagners Meistersinger im eigenen Wohnzimmer
Wagners große Idee war das Gesamtkunstwerk, die Einheit von Text, Musik, Bühnenbild und Architektur unter seiner Regie im eigenen Festspielhaus. "An seinem Mythos hat Wagner selbst schon zu Lebzeiten gearbeitet durch seine Selbststilisierung", sagt Sven Friedrich.
Der Regisseur Barrie Kosky hat diese Idee der Selbstdarstellung Wagners in seiner Bayreuther Inszenierung der "Meistersinger von Nürnberg" aufgegriffen, indem er die Oper in Wagners nachgestaltetem Wohnzimmer beginnen lässt. Dort sei der Komponist, wie Freunde sagten, "der Generalintendant seiner Berühmtheit" gewesen. "Wahnfried war es, wo Wagner sich für Familie und Freunde durch seine eigenen Opern sang. Wo seine Kinder sich immer wieder als Figuren seiner Oper kostümierten", schreibt Kosky im Programmheft.
Die Figur Wagner packt auf der Bühne während der Ouvertüre kostbare Geschenke aus und spielt seiner Frau Cosima und Freunden seine neuesten Ideen am Klavier vor. Später im Stück schlüpft die Wagnerfigur in die Rolle des Schusters und Meistersingers Hans Sachs, der einem jungen Sänger zur Aufnahme in den Kreis der Meistersinger verhelfen will.
Mit dem Sänger und Dramatiker Hans Sachs soll sich Wagner auch im tatsächlichen Leben gerne verglichen haben. "Die Oper rechtfertigt Wagners Behauptung 'Mein Leben ist ein Theaterstück, geschrieben von mir'. Es ist ein Theater der Sehnsucht und Nostalgie des 19. Jahrhunderts, indem er alle Rollen spielt und die Regie übernimmt", schreibt Kosky, der bereits 2019 für die Inszenierung viel Kritikerlob erntete und auch in diesem Jahr mit nicht endendem Applaus belohnt wurde. Der Mythos Wagner lebt immer noch weiter.