Das Ende des Dschungels von Calais
24. Oktober 2016"Wisst ihr wo ihr hinkommt?", rufen wir der Gruppe von Sudanesen zu, die schon früh um sieben Uhr noch im Dunkeln mit Koffern und Rucksäcken aus dem sogenannten Dschungel hervorkommen. "Keine Ahnung, vielleicht in eine Stadt oder aufs Land, die Regierung bringt uns hier weg", antworten sie und tragen ihre wenige Habe weiter in Richtung des Hangars zur Registrierung durch die französische Migrationsbehörde. Daneben warten seit der Nacht die über 100 Busse, die sie bis Mittwoch quer durch Frankreich verteilen sollen. Etwa zwei Stunden später fahren dann die ersten 50 Sudanesen ab - in die Bourgogne. Keiner von ihnen weiß, wo die Region liegen könnte.
Alle sollen weg, aber wohin?
Diese Stimmung unter den hunderten von Menschen, die sich im weiteren Verlauf des Tages vor dem Hangar und der Abfahrt ins Ungewisse sammeln, ist gedämpft. Samuel aus Eritrea läuft an den Wartenden vorbei:"Ich fahre da nicht mit, weil sie uns nicht sagen, wie es mit uns weiter geht". Er ist seit acht Monaten im Dschungel und hat fast jede Nacht versucht, mit einem Laster über den Ärmelkanal zu kommen. "Ich habe kein Glück gehabt, aber jetzt bin ich erschöpft, ich kann nicht mehr." Trotzdem will er, wie viele andere aus dem Camp, nicht irgendwo an einem unbekannten Ort in Frankreich landen.
Also will Samuel versuchen in der Nähe von Calais oder einem anderen Küstenort erst einmal eine Bleibe zu finden. "Ich habe die Sahara überstanden, ich werde auch das schaffen", ermutigt er sich selbst. Seine Freundin ist in Großbritannien, jetzt will Samuel nach Schweden weiter, um sie vielleicht einmal dort zu treffen. Dass die Grenzen auch dorthin dicht sind, ist für ihn kein Thema:"Für 500 Euro findest Du einen Schlepper", sagt er. Als Eriträer hätte er auch in Frankreich Anspruch auf Schutz, aber er traut dem Verfahren nicht. Auch sein Landsmann Ali winkt ab: "Ich war schon drei Jahre in Italien, da gibt es keine Hilfe für uns. Und wenn sie mich zurückschicken, was tue ich dann? Jeder kennt hier die "Dublin" Regeln der EU - du musst zurück ins Land deiner Ankunft in Europa."
Helfer sind pessimistisch
Die Beobachter von "Médecins sans Frontières (MSF)" (Ärzte ohne Grenzen) gehen an den Warteschlangen vorbei: "Es sollte getrennte Reihen für Kinder, Familien und Hilfsbedürftige geben - schon nach drei Stunden herrschte hier Chaos". Die Registrierung geht so langsam voran, dass unter den Wartenden Rangeleien ausbrechen. Die Polizei muss eingreifen."Unser Problem ist, dass wir nicht nachverfolgen können, wohin die Menschen kommen, und was aus ihnen wird", sagt Samuel Hanryon von MSF. Kurz darauf teilen die französischen Behörden mit, dass die Minderjährigen zunächst weiter im Camp bleiben sollen. Es fehlt an Kapazitäten, sich gesondert um sie zu kümmern.
"Wer hier nicht freiwillig geht, kommt in Haft", sagt Hanryon, und nur ein Teil werde die Hoffnung auf Großbritannien aufgeben. Die anderen würden untertauchen und es weiter versuchen."Dann wissen wir nicht, wo sie sind und können sie nicht unterstützen." Besonders für die Jugendlichen sei die Situation unerträglich:"Wenn nach der Schließung des Dschungels die Aufmerksamkeit der Medien endet, mache ich mir wirklich Sorgen um sie." MSF ist daran interssiert, die Spuren der Flüchtlinge so weit wie möglich verfolgen: "Dann können wir ihnen helfen, wenn sie woanders in Frankreich wieder auftauchen."
Die Räumung läuft, die Probleme bleiben
Der Abgeordnete Yves Capet macht sich am Mittag selbst ein Bild von der Räumung und hat einen etwas anderen Blick auf die Lage vor Ort: "Dafür, dass wir hier tausende Menschen wegbringen, ist es ziemlich friedlich. Es läuft eigentlich ganz gut", findet der Politiker aus dem Pas-de-Calais. "Viele Flüchtlinge wollen jetzt hier weg, die Bedingungen sind doch unmenschlich", meint Capet mit Blick auf die windzerfetzten Zelte und halb zerstörten Hütten. Aber was ist mit denen, die nicht weg wollen? "Wir müssen sie überzeugen, überzeugen, überzeugen, bis zum Ende". Die Behörden wollen keine gewalttätigen Auseinandersetzungen mit tausenden verzweifelter Migranten, das betont an diesem Montag auch Innenminister Bernard Cazeneuve.
Sozialist Capet macht sich ebenfalls Sorgen um die Lage der Minderjährigen. Lediglich 200 von ihnen wurden inzwischen in Großbritannien aufgenommen. Nichtregierungsorganisationen schätzen, dass noch rund Tausend weitere im Dschungel sind - oder diesen bereits mit Schleppern und Landsleuten heimlich verlassen haben. "Wir haben hier diesen internationalen Skandal, dass es unbegleitete Minderjährige gibt, die auf der anderen Seite des Ärmelkanals Familie haben." Die britische Regierung müsse endlich eine Lösung schaffen, sagt Capet. "Sie haben nicht genug getan." Man müsse endlich mit London die Migrationsfragen klären.
Er wirft einen letzten Blick auf den Dschungel kurz vor dem Abriss: "Die Menschen hier hatten kein Leben in Würde, und den Bewohnern von Calais hat er wirtschaftlich geschadet", sagt Yves Capet. Aber auch der Abgeordnete weiß, dass die Probleme durch die Räumung nur verlagert und nicht gelöst werden.