Das brasilianische WM-Wunder
14. Juli 2014Brasilianischer geht es nicht: Die WM hat alle Pläne und Prognosen über den Haufen geworfen. Spontanität und Überraschungen innerhalb und außerhalb der Stadien im Gastgeberland haben das Turnier zu einer unvorhersehbaren Achterbahnfahrt gemacht. Atemberaubend und erschütternd zugleich.
"Brasilien hat sein Gesicht gezeigt - fröhlich und gastfreundlich, aber inkompetent, was die Planung und das Kostenmanagement angeht", bilanziert die brasilianische Tageszeitung "O Globo". "Die WM war ein Erfolg, aber jetzt kehrt der Alltag zurück." Die Schlagzeile von Rios wichtigster Zeitung sagt alles.
Zum Auftakt des Turniers am 12. Juni hatten nur wenige an den Erfolg des sportlichen Mega-Events geglaubt. Die Fifa kritisierte die Verzögerungen beim Bau der Stadien. Die Bevölkerung machte ihrer Wut darüber, dass die angekündigten Investitionen in den Ausbau der Infrastruktur sich als leere Versprechen erwiesen hatten, öffentlich Luft.
Lektionen im Gastgeberland
In der Tat: Nach Angaben des brasilianischen Tourismusministeriums wurden nur 24 der vorgesehenen 70 Maßnahmen zum Ausbau der städtischen Verkehrsinfrastruktur fertig gestellt. "Wenn wir über mehr Bahn- und Busverbindungen verfügt hätten, dann hätten wir uns erst gar nicht gefragt, ob dies die WM aller WMs sein wird", erklärte Brasiliens Tourismusminister Vinicius Lages.
Die Fifa scheint das inzwischen nicht mehr zu stören. Ganz im Gegenteil. Angesichts der rekordverdächtigen Zuschauerzahlen und der ausverkauften WM-Stadien feiert auch Fifa-Präsident Joseph Blatter die WM als "großen Erfolg": "Die Stadien sind wunderbar, die Vorbereitung in den Austragungsorten ist beispielhaft", lobte Blatter."Ich danke dem brasilianischen Volk für seine Unterstützung."
Inzwischen steht nicht mehr Brasilien, sondern die Fifa am Pranger. Die brasilianische Polizei ermittelt gegen Funktionäre der Fifa und ihre Vertragspartner, sie sollen einen schwunghaften Schwarzhandel mit WM Tickets betrieben haben. Doch die WM aller WMs - so der Slogan der brasilianischen Regierung, stürzte nicht nur die Fifa von ihrem hohen Ross. Auch die brasilianischen Regierung konnte kein Kapital aus ihr schlagen. Egal, ob Präsidentin Dilma Roussef die Seleção lobte oder tröstete, ihr Beliebtheitsgrad erhöhte sich nicht. Auch beim Endspiel im Maracanã musste die Staatschefin Buhrufe und Piffe über sich ergehen lassen.
Gedemütigte Weltmeister
Die WM stellte aber auch die Leidensfähigkeit brasilianischer Fußballfans auf die Probe. Ausgerechnet im eigenen Land wurde die Seleção von Deutschland vom Platz gefegt. Umso größer war die Erleichterung, als die deutsche Nationalelf nach langem Kampf Argentinien in der Verlängerung im Maracanã besiegte.
Es war eine WM, die alles durcheinander wirbelte. Unbekannte Mannschaften wie Costa Rica und Kolumbien triumphierten, Weltmeister wie Spanien und Italien schieden unverhofft in der Vorrunde aus. Jenseits der Stadien schlug die Stimmung zugunsten des Fußballturniers um, die Proteste auf den Straßen verpufften und die Begeisterung wuchs.
Schon bei der Partie England gegen Uruguay am 19. Juni in São Paulo starrte die Mehrheit der Brasilianer auf den Bildschirm. Nur ein paar hundert Demonstranten erinnerten in der Nähe des Stadions an die Massenproteste während des Confed Cups vor einem Jahr. "Was veranlasst ein halbes Dutzend von Demonstranten, öffentliches Eigentum zu zerstören, nur weil sie meinen, 200 Millionen Landsleute zu vertreten?", ärgerte sich der Student Douglas Guedes aus Brasilia. "Ich weiß nicht, wer schlimmer ist, die korrupte Regierung oder die Randalierer, die sich in den Vordergrund drängen."
Brasiliens zweite Entdeckung
Protestierende Aktivisten, Präsidentin Dilma Rousseff, Fifa-Chef Joseph Blatter und Brasiliens Nationalcoach Luis Felipe Scolari - bei dieser WM kam keiner ungeschoren und ohne Buhrufe davon. Nur die brasilianische Bevölkerung schwebt auf einer Sympathiewolke - ihre Gastfreundschaft machte die WM zu einem echten Fest.
Insbesondere die Einwohner von Rios Armutsvierteln avancierten unverhofft zu Botschaftern ihres Landes. Denn die Favelas boten nicht nur billigere Übernachtungsmöglichkeiten als die Hotels an der Copacabana. Auf den Bolzplätzen und beim Public-Viewing in der Favela kam es auch zum Austausch mit den "Gringos", die von der Überlebenskunst und Herzlichkeit der Einwohner auf den Hügeln der Stadt beeindruckt waren.
Zerrissen zwischen arm und reich, zwischen Jubel und Trauer, zwischen Protest und Patriotismus - bei der WM hatten viele Fußballfans die Gelegenheit, das größte Land Lateinamerikas jenseits der Klischees von Samba, Sonne und Karneval kennenzulernen. Brasilien hat sein Gesicht gezeigt. Schon am Tag des Endspiels richtet sich der Blick in die Zukunft : "Nur noch 754 Tage bis zu den Olympischen Spielen", schrieb "O Globo".