Ruhm, Attentate und Legenden
28. Juni 2016"Talent ist das Hauptkriterium, wenn man Tänzer beim Bolschoi sein möchte", erklärt Machar Wasijew ohne Umschweife. Ob Rollen in der Vergangenheit für Sex oder Geld vergeben wurden? "Das gab es nicht, und das gibt es nicht", meint der neue Ballettchef. Seit Jahren kursieren allerdings Gerüchte, Talent alleine reiche nicht aus, um eine Anstellung als Tänzer auf der begehrten Bolschoi-Bühne zu ergattern.
Tiefpunkt des Theaters
Vor drei Jahren wäre der damalige Ballettchef Sergej Filin um ein Haar wegen eines Säureattentats fast erblindet. Der Drahtzieher des Anschlags, der ehemalige Startänzer Pawel Dmitritschenko, wurde zu sechs Jahren Haft verurteilt, ist aber mittlerweile auf Bewährung frei. Der Prozess rückte damals die bitteren Rivalitäten und Intrigen am Bolschoi in die Öffentlichkeit.
Angeblich hatte Filin sowohl Dmitritschenko als auch seiner damaligen Freundin Angelina Woronzowa nicht die ersehnten Hauptrollen gegeben. Der Startänzer sei rachsüchtig und eifersüchtig, berichtete Filin vor Gericht. Dmitritschenko, so der damalige Ballettchef, habe ihm schon vor dem Anschlag Vetternwirtschaft unterstellt, um seinen Ruf zu ruinieren.
Daraufhin verließen Filin und sowie der damalige Generaldirektor das Theater. Im selben Jahr ging auch die junge talentierte US-amerikanische Tänzerin Joy Womack. Für eine Solorolle habe man von ihr 10.000 US-Dollar verlangt, erklärte sie.
Mythen und Legenden
Am gesamten Theater arbeiten rund 900 Schauspieler, Musiker und Tänzer. "Um das Bolschoi ranken sich viele Mythen und Legenden", so der Balletchef im Gespräch mit der DW. Machar Wasijew führte 13 Jahre lang die Kompagnie am geschichtsträchtigen Sankt Petersburger Mariinski-Theater, bevor er 2008 zur Scala nach Mailand wechselte. Seit März 2016 führt er die Ballettruppe des Bolschoi.
Es sei nun einmal eine riesengroße Kompagnie mit all ihren Eigenheiten und einem ganz speziellen Rhythmus. "Unsere Aufgabe ist es, Ballet vom Feinsten auf der Bolschoi-Bühne zu zeigen", beschreibt Wasijew seinen Job. "Ich sage immer zu den Tänzern: "Wenn sie etwas Neues vorbereitet haben, was sie mir zeigen wollen - dann schaue ich mir das doch gerne an." Das kommt bei den Tänzern gut an.
Ein neuer Ansatz
Seit Wasijew die Kompagnie leitet, habe sich einiges am Theater geändert, meint Tänzer Denis Rodkin. Zurzeit probt er für "Iwan der Schreckliche". Der Ballettklassiker erzählt die Geschichte eines der unbarmherzigsten Zaren Russlands. Es geht um Politik, Macht und Sex - wie im wahren Leben am Bolschoi Ballett.
"Leider war die Stimmung unter der vorherigen Führung ziemlich unschön", so Rodkin gegenüber der DW. Jetzt herrsche endlich wieder eine kreative Atmosphäre: "Alle wollen zeigen, dass sie das Zeug dazu haben, auf der Bolschoi-Bühne zu tanzen."
Machar Wasijew habe die Tänzer wieder angespornt, meint auch Anna Tikhomirova, die für die Rolle der Giselle im gleichnamigen romantischen Ballett probt. Der neue Direktor sei bei allen Proben dabei, so Tikhomirova. "Er schaut sich jeden Tänzer an, auch die jüngeren, und gibt ihnen die Chance, ihr Können zu präsentieren. Das finde ich richtig."
Mehr Disziplin
"So diszipliniert wie heute haben wir früher nicht gearbeitet", betont Rodkin. Die Tänzer gäben sich große Mühe und jeder bereite etwas vor, das er oder sie dem Chef zeigen wolle.
"Machar Wasijew hebt das klassische Niveau der Truppe", erklärt Rodkin. Das sei sehr wichtig, denn beim Bolschoi gehe es vor allem um klassisches Ballett und erst an zweiter Stelle um moderne Choreographien.
Dieser Schwerpunkt auf Balletklassiker macht es der Kompagnie mitunter auch schwer: 2011 sind mit Natalia Osipova und Ivan Vasiliev gleich zwei Toptänzer zum Mikhailovsky Theater in Sankt Petersburg gewechselt. Begründung: In Moskau werde ihre Kreativität gebremst.
Doch Bolschoi-Balletchef Machar Wasijew betont eher gelassen: "Wir haben sie doch nicht verloren, sie leben." Es gebe Naturtalente, deren kreative Bedürfnisse kein Theater befriedigen könne. "Wenn ein Tänzer woanders etwas Neues beginnen will, warum soll das eine Katastrophe sein?" Das sei doch normal. "Unsere Tür ist für sie immer offen."
Skandale gehören zum Leben
Demnächst begegne man sich sowieso wieder, wenn das Bolschoi auf seiner Tournee in London auftritt: Natalia Osipova ist dort inzwischen Solotänzerin beim Royal Ballet. Etwas Besonders plane man nicht für die Londoner Aufführungen, erklärt Wasijew. "Das Bolschoi muss ohnehin überall einfach brillant sein." Die Auftritte auf der heimischen Bühne seien allerdings das Wichtigste: "Alles was wir tun, tun wir vor allem für unser Publikum in Russland."
Der Beliebtheit des Bolschoi-Theaters in Russland hat seine skandalöse Vergangenheit jedenfalls keinen Abbruch getan: "Skandale gehören zu unserem Leben dazu", erklärt ein Besucher nach einer Aufführung von "Ivan der Schreckliche". Sie könnten der Kultur nichts anhaben", meint er und fügt hinzu, er sei stolz, dass "russische Kultur einen Platz in der Welt hat."