Das am stärksten verminte Land der Welt liegt in Europa
23. November 2023Billig sind sie, explosiv und tausendfach tödlich, auch nach Jahrzehnten: Minen. Das am stärksten verminte Land der Welt liegt in Europa. Im Ukraine-Krieg spielen Minen eine wichtige Rolle - auf beiden Seiten.Russland hat weite Gebiete des Landes vermint, um die ukrainische Offensive zu verlangsamen. An manchen Stellen der über 1000 Kilometer langen Frontlinie sind die Minenfelder bis zu zehn Kilometer tief. Aber auch die Strategen in Kiew setzen auf Minen, um russische Truppen am Vordringen zu hindern. Zu den von Deutschland an die Ukraine gelieferten Waffen gehören unter anderem Panzerabwehrminen.
In der Ukraine - bestätigt im DW-Interview Oberst a.D. Wolfgang Richter - seien riesige Minenfelder angelegt worden. "Es handelt sich dabei vorwiegend um Antipanzerminen oder Antifahrzeugminen. Die erschweren das Vorankommen erheblich, denn die Angriffe erfolgen ja nicht nur zu Fuß, sondern man braucht schwere Waffen, man braucht Panzerfahrzeuge, Kettenfahrzeuge zur Unterstützung der Angriffsbewegungen. Und die kommen bei größeren Minenfeldern eben ohne aufwendiges Minenräumen nicht durch", erklärt Ex-Militär Richter, zurzeit Associate Fellow am Genfer Zentrum für Sicherheitspolitik.
Aus militärischer Sicht gehe es bei Minenfeldern vor allen Dingen um den Verzögerungseffekt, sagt Richter. "Man staut die Ziele, die man dann mit direktem Beschuss und mit Artillerie und Mörsern bekämpfen kann. Ohne die ständige Beobachtung und Überwachung durch Feuer haben Minenfelder nur einen geringen Effekt; denn es wäre dann nur eine Frage der Zeit, sie zu überwinden."
Um das Minenräumen zu erschweren, sagt Oberst a.D. Richter, würden zwischen die Antifahrzeugminen immer wieder auch Antipersonenminen gestreut. Ansonsten seien Antipersonenminen vor allem im Häuserkampf von Bedeutung. "Diese Minen spielen dort eine große Rolle, wo Soldaten zu Fuß angreifen müssen. Dort können sie die angreifenden Soldaten gefährden oder aufhalten", führt Richter aus.
Anstieg der Opfer um das Zehnfache
Entsprechend prominent wird die Ukraine deshalb auch im jüngsten "Landminenreport"erwähnt. Aus der Ukraine wurden demnach im letzten Jahr 2022 insgesamt 608 Fälle gemeldet, bei denen Menschen durch Minen getötet oder verletzt wurden - ein Anstieg um das Zehnfache dort gegenüber 2021. Dabei würden viele Fälle in der Ukraine gar nicht gemeldet, schreiben die Autoren des Landminenreports. Der Bericht wurde Mitte November herausgegeben, eine Woche vor der Vertragsstaatenkonferenz der Antipersonenminen-Konvention, die vom 20. bis 24. November unter deutschem Vorsitz in Genf stattfand.
Viele Opfer auch in Syrien und Myanmar
Gut 25 Jahre nach dem Abschluss des Abkommens über das Verbot von Antipersonenminen beklagte in Genf die deutsche Staatsministerin im Auswärtigen Amt, Katja Keul, es würden "noch immer viel zu viele Zivilisten durch Antipersonenminen getötet oder verwundet, in Myanmar, Afghanistan oder der Ukraine, wo wir sogar eine Ausweitung ihres Einsatzes sehen".
Insgesamt seien 2022 mindestens 4710 Menschen Opfer von Landminen, Blindgängern oder Munitionsresten geworden, führt der von der Internationalen Kampagne zum Verbot von Landminen (ICBL) herausgegebene Landminenmonitor auf. Die meisten Opfer habe es demnach in Syrien gegeben. Aber auch in Myanmar und im Jemen seien jeweils über 500 Menschen von Minen getötet oder verletzt worden.
Laut Landminenreport sind in 85 Prozent der Fälle Zivilisten betroffen. Die Hälfte davon waren Kinder. Die Todbringer im Boden unterscheiden natürlich nicht zwischen Zivilisten und Soldaten.
Friedensnobelpreis für Kampf gegen Minen
Antipersonenminen sind seit 1999 verboten, durch das sogenannte Ottawa-Übereinkommen, mit vollem Namen: Übereinkommen über das Verbot des Einsatzes, der Lagerung, der Herstellung und der Weitergabe von Antipersonenminen und über deren Vernichtung. Bei der Vertragsstaatenkonferenz des Ottawa-Abkommens erinnerte Staatsministerin Keul noch einmal an die ungewöhnliche Geschichte des Abkommens: "Zivilgesellschaftliche und internationale Organisationen haben ihre Kräfte mit einer Kerngruppe von 18 Staaten vereint und haben gemeinsam auf dieses Ziel hingearbeitet: Landminen zu verbieten."
Der Erfolg wurde mit dem Friedensnobelpreis honoriert. Mittlerweile sind 164 Staaten dem Abkommen beigetreten. Diese überwältigende Mehrheit der Staatengemeinschaft hat damit eine weitgehende Ächtung dieser Waffen erreicht. Aber es fehlen eben die Unterschriften von über 30 Staaten - darunter die militärischen Schwergewichte USA, China und Russland, das allein die Hälfte der Weltbestände besitzt. Zudem verbietet das Abkommen ausdrücklich eben nur Antipersonenminen; Antifahrzeugminen oder Antipanzerminen fallen nicht unter das Verbot.
Eva Maria Fischer nahm in Genf für die Hilfsorganisation Handicap International an der Landminenkonferenz teil. Im Gespräch mit der DW bedauerte sie die seit einigen Jahren wieder steigenden Opferzahlen und erkennt die Schwächen des Abkommens an. Aber Fischer erinnerte auch daran, "dass vor 25 Jahren die Zahl der Opfer von Minen fünf Mal so hoch war". Zur Erfolgsbilanz des Abkommens gehört für sie noch mehr: "Bevor es diesen Vertrag gab, haben die meisten europäischen Staaten Minen in ihren Beständen gehabt und Minen produziert. Heute haben die allermeisten Länder Europas diese Waffen verboten und Antipersonenminen aus ihren Beständen beseitigt." Ehemals stark verminte Länder seien mittlerweile minenfrei, hebt Fischer hervor, und verweist speziell auf Mosambik, das sich vor einigen Jahren für minenfrei erklärt hat.
110 Millionen Minen verseuchen 60 Staaten
Minen sind zwar billig in der Produktion und einfach zu verlegen. Sie später zu räumen ist allerdings teuer - und viele Staaten wären mit der Räumung überfordert, speziell nach Jahren von Krieg und Konflikt. 2022 hat die Staatengemeinschaft immerhin knapp eine Milliarde Dollar aufgebracht, um Minenräumung zu finanzieren. Dabei hofft Eva-Maria Fischer, "dass man eben jene Länder nicht vergisst, in denen kein aktueller Konflikt mehr herrscht, in denen aber seit Jahrzehnten Minen liegen und die auf einem guten Weg sind, diese Minen zu beseitigen - wenn sie genügend Unterstützung bekommen. Dazu gehören zum Beispiel Kambodscha und andere Länder in Südostasien. Dazu gehört auch Bosnien-Herzegowina, mitten in Europa."
Weltweit sind rund 60 Staaten von Landminen verseucht. Vor zwei Jahren schätzte der wissenschaftliche Dienst des Bundestages die Zahl der weltweit verlegten - und wahrscheinlich noch scharfen - Minen auf 110 Millionen. Die Zahl der Menschen, die eine Berührung mit einer Mine verstümmelt an Armen oder Beinen, erblindet oder mit Gehörverlust oder einer anderen Art von Behinderung überlebt haben, wird auf rund 500.000 geschätzt. Die Vertragsstaaten des Landminenverbots haben also noch eine Menge zu tun.