"Damals" - ein Comic über ältere queere Menschen
30. März 2024"Ich war 23, als ich von meinem Elternhaus nach Chemnitz zog. Und dann begann das wahre Leben", heißt es auf einer Seite des Comics "Damals". Die Illustration zeigt einen jungen Mann mit freudig ausgebreiteten Armen vor einer Discokugel in der ostdeutschen Stadt. "Chemnitz klingt für die meisten Menschen unglaublich langweilig. Es hat einen schlechten Ruf", lautet der Text im nächsten Bild. "Für mich als jungen Schwulen, der hier eine kleine Community, schwule Clubs und vieles andere gefunden hat, war es der beste Ort der Welt."
Der Comic ist von dem Zeichner Jean-Côme in Schwarz, Weiß und Gelb illustriert. Es ist eine von mehreren Geschichten aus der Graphic Novel "Damals". Im Mai kommt der Sammelband im Berliner Comic-Verlag Moom Comics auf Deutsch und Englisch heraus.
Das Buch ist ein Herzensprojekt von Moom Comics-Gründer Lukasz Majcher. Der 39-Jährige, der 2015 aus seiner polnischen Heimat nach Berlin gezogen ist, ist schon lange von den Geschichten schwuler Männer über 50 fasziniert. Auch dank des Freundeskreises, den er mit seinem Partner Stefan, 53, teilt. "Ich habe so viel Zeit mit diesen Jungs verbracht. Sie sprechen häufig über das schwule Leben in den 1980er Jahren. Mein Freund Malcolm zum Beispiel hat die AIDS-Pandemie überlebt", erzählt Majcher im DW-Gespräch. "Mir wurde schnell klar, dass die Leute heute, vor allem die jüngeren, keine Ahnung haben, wie es für die Menschen war, die sich damals geoutet haben. Deshalb heißt das Buch auch 'Damals'."
Zusammen mit 13 anderen Comiczeichnerinnen und -zeichnern machte er sich daran, die Geschichten von zwölf queeren Menschen über 50 zu recherchieren. Ihre Geschichten werden durch lebendige Illustrationen im Stil der einzelnen Künstler erzählt. Über mehrere Monate führten die Zeichnerinnen und Zeichner Interviews, erstellten Storyboards und illustrierten dann Geschichten aus der Kindheit und Jugend der Protagonistinnen und Protagonisten.
Geteiltes Leid
Alle interviewten Personen leben heute in Berlin. Und obwohl einige von ihnen aus Majchers Freundeskreis stammen, erfuhr er während des Entstehungsprozesses des Sammelbands noch viel mehr über sie.
Als er die Interviews führte, fiel ihm auf, wie schwierig es für die befragten LGBTQ-Personen war, genau zu verstehen, wer sie waren und was sie vor mehreren Jahrzehnten - vor dem Internet - erlebt hatten. "Sie hatten damals ja keine Mittel, sich über Sexualität aufzuklären, wie wir sie heute haben - sie mussten alles durch Intuition lernen. Es war also sehr schwierig für sie, herauszufinden, was mit ihnen los war - ob sie 'normal' waren. Viele von ihnen hatten Angst, dass sie psychische Probleme hätten oder pervers wären - auch wegen der gesellschaftlichen Stigmatisierung", berichtet Majcher.
Viele der befragten Personen hätten Jahre gebraucht, um zu verstehen und zu akzeptieren, wer sie wirklich sind. "Mein Partner Stefan, der auch in dem Buch vorkommt, war zum Beispiel immer davon überzeugt, dass es für Jungen normal ist, andere Jungen zu beobachten und sich sogar von deren Körperbau angezogen zu fühlen. Er hielt diese sexuellen Gefühle für normal, obwohl er niemanden hatte, mit dem er darüber sprechen konnte." Da es damals nur wenige Menschen gab, an die man sich wenden konnten, "schuf man seine eigene Definitionen von Sexualität", sagt Majcher.
Ein Comic-Verlag der sich queeren Geschichten widmet
In seiner Heimat Polen arbeitete Majcher im Marketing und auf Musikfestivals. 2015 zog er für die Liebe nach Berlin. Es war nicht einfach für ihn. Während er sich anstrengte, Deutsch zu lernen, nahm er eine Reihe von Nebenjobs an. Er putzte unter anderem Toiletten am Flughafen. "Ich habe mein ganzes Leben lang Comics gezeichnet, aber nie professionell - ich hatte das Gefühl, nicht gut genug zu sein. Aber dann traf ich die richtigen Leute, die mich davon überzeugten, dass ich mehr Talent habe, als ich dachte." Schließlich begann er, seine eigenen Comics zu veröffentlichen, und beschloss 2023, den nächsten Schritt zu tun und seinen eigenen unabhängigen Comic-Verlag, Moom Comics, in Berlin zu gründen, um auch die Arbeiten anderer queerer Künstlerinnen und Künstler veröffentlichen zu können.
Moom Comics ist der erste Comic-Verlag in Deutschland, der sich ganz auf queere Themen konzentriert. Zu den bisherigen Veröffentlichungen gehört die Superhelden-Serie "Power Bear", die sich mit psychischer Gesundheit befasst. Der Comicheld ist Max, ein Büroangestellter aus Berlin, der eines Tages übermenschliche Fähigkeiten erlangt.
Die Hauptfiguren der verkauften Bücher sind zwar queer, "aber unsere Comics richten sich an alle Leserinnen und Leser. Unabhängig von Hautfarbe, Nationalität und Weltanschauung", sagt Majcher. Dass er einen unabhängigen Verlag hat, gebe ihm die Freiheit, zu veröffentlichen, was er will, ohne sich an Mainstream-Normen halten zu müssen, führt er aus. "Ich denke, ein Comic ist eine großartige Möglichkeit, verschiedene Arten von Menschen zu zeigen".
Majcher hofft auch, dass der jetzt erscheinende Sammelband dazu beitragen wird, die Alterskluft innerhalb der LGBTQ-Gemeinschaft zu überbrücken. Das sei besonders wichtig, weil viele Medien - ebenso wie Social-Media-Plattformen wie TikTok oder Instagram - queere Stimmen in dieser Altersgruppe oft überhörten und sich lieber auf jüngere, "schönere" Menschen konzentrierten.
"Das ist heutzutage ein wirklich großes Thema: Was ist mit queeren Menschen, wenn sie älter werden?" Sie hätten es oft nicht einfach. "Viele haben keine große Familie - manche nur ihren Partner". Dabei sei es so wichtig, sagt Majcher, Empathie aufzubringen und die Kluft zwischen den Generationen zu überbrücken.
Adaption aus dem Englischen: Kevin Tschierse