Die eiserne Lady Litauens
9. Mai 2013Schultern gerade. Blick nach vorn. Konzentriert. Fokussiert. Das ist ihre Paraderolle: Dalia Grybauskaite, die strenge Herrscherin der litauischen Politik.
"Mein Charakter wurde im Grunde im Kampf ums Überleben geformt", erzählt die 57-Jährige und beobachtet ihr Gegenüber, aufmerksam, ohne Regung. "Ich komme nicht aus einer reichen Familie, ich hatte nie jemanden, der mich gefördert oder unterstützt hat. Vielleicht wirke ich deshalb so streng." Seit 2009 ist Grybauskaite litauische Präsidentin, als erste Frau in diesem Amt. Die Medien bezeichnen sie oft als "Eiserne Lady", in Anlehnung an ihr Vorbild, die ehemalige britische Premierministerin Margaret Thatcher.
Und eisern verfolgte Grybauskaite ihre Karriere: Nach der Unabhängigkeit Litauens 1990 wurde sie erst Abteilungsleiterin im Außenhandelsministerium, dann im Außenministerium. Sie war Chefunterhändlerin für das Freihandelsabkommen mit der EU, arbeitete an der litauischen Botschaft in den USA, wurde Finanzministerin Litauens und schließlich, 2004, zur EU-Kommissarin für Finanzen und Haushalt ernannt. "Jeglicher Erfolg hängt nicht nur vom Talent ab, denke ich, sondern muss notwendigerweise auf harter Arbeit und Disziplin beruhen. So arbeite ich - und das erwarte ich auch von anderen", sagt sie.
Sie hasst endloses Gerede
"Sie präsentiert sich gerne als starke, präzise Person: jemand, der keine langen Gespräche mit mangelnden Ergebnissen mag. Jemand, der zum Punkt kommen will, der Dinge erledigt sehen möchte", urteilt Ramunas Vilpisauskas, Direktor des Instituts für Politikwissenschaften an der Universität Vilnius. Endlose Reden seien bei ihr die Ausnahme, Pragmatismus die Regel. "Gleichzeitig gibt sie dem Amt eine sehr persönliche Note." Die Präsidentin kann Karate, trägt sogar den schwarzen Gurt. Schlagkraft, Ausdauer, Disziplin, Ehrgeiz - Eigenschaften, die ihr beim Sport nutzen, sind auch im politischen Geschäft hilfreich.
Und jetzt also die Krönung ihrer Arbeit: der Karlspreis der Stadt Aachen, der "Oscar der Politik". Grybauskaite sei "eine der herausragenden Persönlichkeiten der baltischen Region" und der Preis eine "Würdigung ihrer bedeutenden Verdienste um eine vertiefte Integration der Europäischen Union und die Bewältigung der aktuellen Krise", heißt es in der Begründung des Karlspreis-Direktoriums.
Sie liebt ihr Land
Als Litauen 2008 von der Wirtschaftskrise getroffen wurde, verließ Grybauskaite ihren Kommissarsposten und kandidierte für das litauische Präsidentenamt. "Eigentlich wollte ich nie Präsidentin werden. Ich habe es nur gemacht, weil ich Litauen in die Krise schlittern sah, und ich wollte der Regierung helfen, diese Probleme zu bewältigen", begründet sie ihre Bewerbung. Grybauskaite, die Retterin, die Superheldin.
Gemeinsam mit der Regierung des damaligen Ministerpräsidenten Andrius Kubilius stabilisierte sie das Land. Anders als die Krisenländer im Süden Europas verzichtete sie dabei auf Finanzhilfe durch den Internationalen Währungsfonds: "Wenn es politischen Willen gibt und politische Verantwortung, braucht man keine Hilfe", so Grybauskaite im Gespräch mit der DW. Litauen habe es so ohne eine Diktatur von außen geschafft, die Krise zu bewältigen.
Ein Drache - aber ein beliebter
Grybauskaites Kritiker sprechen hingegen von einer "Diktatur von innen": Öffentliche Ausgaben wurden um 30 Prozent gekürzt, Gehälter im öffentlichen Dienst um 20 und Renten um elf Prozent. Gleichzeitig erhöhte die Regierung die Steuern. Es folgte ein Exodus der Verzweifelten - und der Qualifizierten. Seit der Unabhängigkeit hat Litauen eine halbe Million Einwohner verloren, gut ein Fünftel seiner Bevölkerung. "Das ist vermutlich der Preis der Integration in einen größeren Wirtschaftsraum. Aber für ein kleines Land ist das natürlich eine sehr, sehr schlechte Nachricht", so Grybauskaite.
Wenn man sich auf den Straßen von Vilnius umhört, heißt es, Grybauskaite habe nur ihre eigenen Interessen im Blick, sei autoritär und narzisstisch - ein Drache! Zwar führt sie weiter die Ranglisten der beliebtesten Politiker an, doch seit der Krise sind ihre Werte leicht gesunken. Und immer wieder kommen Gerüchte auf: Sie sei lesbisch und habe für den KGB gearbeitet - schließlich habe sie zur Sowjetzeit in Russland studiert und in Moskau ihren Doktor gemacht. Grybauskaite dementiert beides entschieden.
Antreten zum Englisch-Test
Während ihrer Zeit als EU-Kommissarin galt sie als jemand, der kein Blatt vor den Mund nimmt. Inzwischen muss die Präsidentin mehr auf ihre Wortwahl achten - und auf ihre Popularität. Nach den Parlamentswahlen im Herbst 2012 kündigte Grybauskaite an, die Englischkenntnisse der neuen Minister persönlich zu prüfen. Es folgte ein bissiger Verriss durch die Medien: "Es wäre nur logisch, wenn ein Kandidat nach dem Englisch-Test auch noch eine Bescheinigung über seine physische und psychische Gesundheit vorlegen müsste", schrieb die liberale Tageszeitung "Lietuvos rytas". Auf die gründliche Prüfung mit Lügendetektor sollten Sportwettkämpfe folgen, etwa das Stemmen eines Haushaltssäckels oder das Bohren dicker Bretter, lästerten die Zeitungsmacher.
Grybauskaite lässt diese Ironie kalt. "Es kamen neue politische Kräfte an die Macht, die meisten ohne Erfahrung in Regierungsführung, Außenpolitik oder irgendwas. Ich habe verlangt, dass sie Professionalität, Sach- und Fremdsprachenkenntnisse vorweisen - schließlich übernehmen wir im Juli die EU-Ratspräsidentschaft." Es sei extrem unprofessionell, nach Brüssel zu gehen und nicht mal eine der Arbeitssprachen zu können.
Grybauskaite, die nächste EU-Präsidentin?
Die EU-Ratspräsidentschaft ist so etwas wie Grybauskaites Traumrolle. "Vor allem im vergangenen Jahr hat sie sich stark um Außenpolitik bemüht, durch Reisen in die Ukraine zum Beispiel. Sie nutzt die anstehende EU-Ratspräsidentschaft, um sichtbarer zu werden - in der EU, aber auch in Litauen selbst", meint der Politikwissenschaftler Ramunas Vilpisauskas.
Möglicherweise wolle Grybauskaite Europa künftig noch stärker prägen, spekulieren litauische Medien bereits. 2014 steht die litauische Präsidentenwahl an - und ein halbes Jahr später wird ein neuer EU-Ratspräsident gewählt: Herman Van Rompuy will dann sein Amt abgeben. "Ob ich für eine zweite Amtszeit in Litauen kandidiere, entscheide ich im nächsten Frühjahr. Ich konzentriere mich in diesem Jahr erst einmal auf die EU-Ratspräsidentschaft", wiegelt Grybauskaite mit ernster Miene ab. Doch dann lockert sie auf einmal die Schultern, lächelt, strahlt geradezu. "Mal sehen, wie wir das im Sommer hinkriegen."
DW-Journalistin Monika Griebeler war im Rahmen des journalistischen Austauschprogramms "Nahaufnahme" zu Gast in der Redaktion des litauischen Nachrichtenportals delfi.lt. Während dieses Projektes des Goethe-Instituts tauschen Journalisten aus Deutschland und anderen europäischen Ländern für einige Wochen ihre Arbeitsplätze. Im Dezember 2012 war die litauische Journalistin Vytene Stasaityte zu Besuch bei der Deutschen Welle.