Ein düsteres Kolonial-Erbe
23. März 2012"Innerhalb der deutschen Grenzen wird jeder Herero mit und ohne Gewehr, mit oder ohne Vieh erschossen, ich nehme keine Weiber und Kinder mehr auf, treibe sie zu ihrem Volke zurück oder lasse auf sie schießen." Mit diesem Befehl, ausgesprochen von General Lothar von Trotha am 2. Oktober 1904, wird eins der dunkelsten Kapitel der deutschen Kolonialgeschichte besiegelt: Mehr als 70.000 Herero und 10.000 Nama sterben in den Folgejahren - und damit ein Großteil der Stammespopulation im damaligen Deutsch-Südwestafrika.
Namibische Opferverbände, aber auch deutsche Nichtregierungsorganisationen fordern deshalb seit langem die Anerkennung der deutschen Kolonialmassaker als Völkermord. "Der Begriff ist angebracht, weil der Vorsatz der Vernichtung bestand", sagt Christian Kopp vom Bündnis "Berlin Postkolonial". "Es gab eine klare Absicht, die Herero und Nama auszurotten - so formuliert im Vernichtungsbefehl des Generals."
"Hunderttausend Menschen wurden erhängt, erschossen, man ließ sie in der Wüste verdursten, indem man die Wasserstellen besetzte, man hat sie zur Zwangsarbeit in Lager gesteckt", sagt auch Niema Movassat, Bundestagsabgeordneter der Linken, im Gespräch mit der Deutschen Welle. "Dafür muss man die Verantwortung übernehmen." Um für den mörderischen Feldzug der deutschen Besatzer im damaligen Deutsch-Südwestafrika den Begriff des Völkermordes durchzusetzen, hat die Bundestagsfraktion der Linken unter Federführung Movassats bereits Ende Februar einen Antrag in den Bundestag eingebracht. "Die historische Feststellung, dass es ein Völkermord war, wurde bislang nie gemacht", erklärt Movassat. "Nie gab es eine offizielle Entschuldigung." In dieser Woche fand im Parlament die zweite und dritte Lesung statt.
Auch SPD und Grüne sprechen von "Völkermord"
SPD und Grüne legten nun einen Gegenantrag vor. "Ich mache keinen Hehl daraus, dass es in manchen deutschen Regierungen eine Aversion gab, diese Verbrechen als das zu qualifizieren, was sie waren - als Völkermord", so der Grünen-Bundestagsabgeordnete Hans-Christian Ströbele im DW-Interview. "Wir kritisieren am Antrag der Linken aber, dass sie so tun, als ob bis heute nichts passiert sei. Richtig ist, dass sich der deutsche Bundestag alle zehn Jahre immer wieder auch mit der Frage beschäftigt, ob das ein Völkermord sei. Er hat auch immer wieder Erklärungen abgegeben, sich aber stets um die Definition und eine Stellungnahme herumgemogelt."
So sei beispielsweise noch unter der rot-grünen Regierung ein Hilfsfonds eingerichtet worden, der jedoch dann nie richtig wirksam geworden sei. Nach Vorstellung der Grünen und der SPD soll dieser Fonds "jetzt wiedererweckt und noch besser ausgestattet" werden. Die nötigen Mittel sollten aus dem Bundeshaushalt kommen.
Prahlen mit dem Völkermord
Zwischen 1884 und 1915 war Deutschland - das erst im 19. Jahrhundert zur Kolonialmacht geworden war - Besatzer im heutigen Namibia. Der Völkermord an den Herero wurde in den Jahren 1904 und 1908 verübt. "Alle Kolonialmächte waren nicht sehr zimperlich", urteilt der Namibia-Experte Henning Melber von der "Dag Hammarskjöld Foundation" in Stockholm. "Die Besonderheit Deutschlands im Falle von Südwestafrika ist jedoch, dass sich hier in aller Öffentlichkeit ein Krieg vollzog, der den heutigen Kriterien eines Völkermords entspricht. Es ist also nicht einmal so, dass man im Nachhinein sagen könnte, da fand ein Völkermord in aller Heimlichkeit statt." Im deutschen Kaiserreich seien die Ereignisse in Deutsch-Südwest vielmehr ein wichtiges Thema gewesen, und die politische Elite habe sich "ganz unverhohlen damit gebrüstet, dass sie die Herero und Nama ausgerottet haben."
Doch erst mit der Unabhängigkeit Namibias im Jahr 1990 wurde das volle Ausmaß der Verbrechen im Land selbst bekannt. "Dann erst begannen die Herero und Nama, diese Frage auf die Tagesordnung zu setzen. Sie hatten aber noch nicht die Definitionsmacht, das als regierungsamtliche Position zu vertreten", so Melber. Und es dauerte noch bis zum Jahr 2006, bis sich das überwiegend von der Stammesgruppe der Ovambo besetzte namibische Parlament überhaupt hinter die Forderung der Herero und Nama nach Wiedergutmachung stellte.
Schwankende Linie der Deutschen
"Auf deutscher Seite ist so wenig passiert, weil die gesamte politische Elite aus Angst vor den rechtlichen und moralischen Folgen sehr wenig Interesse daran hat, diese Definition vorzunehmen", vermutet Christian Kopp von "Berlin Postkolonial". Der Staat könnte dann zu Reparationsleistungen verpflichtet sein.
Dafür sprechen auch verschiedene Ereignisse in der Vergangenheit: Bereits 2004 war die damalige sozialdemokratische Entwicklungsministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul zwar zur Gedenkfeier 100 Jahre nach Beginn des Völkermords nach Namibia gereist und hatte in einer bewegenden Rede "im Sinne des gemeinsamen 'Vater unser' um Vergebung unserer Schuld" gebeten. "Das Problem war jedoch, dass dies später abgetan wurde als persönliche Stellungnahme, nicht als Regierungslinie", sagt Niema Movassat, "und das unter anderem auf Druck der Bundsregierung hin."
Henning Melber hält das Vorgehen für politisches Kalkül, um Verstimmungen mit wichtigen europäischen Partnern zu vermeiden: "Ich könnte mir vorstellen, dass Frankreich, Großbritannien und Portugal sehr genau verfolgen, wie sich die Bundesregierung hier verhält. Denn einmal angenommen, Deutschland würde Zahlungen in Millionenhöhe zustimmen - dann würde ein Präzedenzfall geschaffen, der Folgeverhandlungen in anderen Ländern nach sich ziehen würde." Europäische Partner seien daher "geneigt, den Deutschen hinter verschlossenen Türen zu raten, das besser bleiben zu lassen."
Auch Matthias Basedau, Afrika-Experte am German Institute of Global and Area Studies (GIGA) in Hamburg, sieht den Grund für die deutsche Zögerlichkeit in wirtschaftspolitischen Erwägungen. Südwestafrika werde in Deutschland heute überwiegend als Touristengebiet wahrgenommen: "Wenn Namibia dagegen ein wichtiger wirtschaftlicher Partner wäre, hätte das Problem natürlich einen ganz anderen Stellenwert."
Namibische Delegation brüskiert
Ende vergangenen Jahres sorgte dann ein diplomatischer Zwischenfall für eine Zuspitzung, den alle Interviewpartner bis heute unisono als "Eklat" oder "Affront" bewerten: Erstmals reiste eine Delegation aus Namibia nach Deutschland, um Schädel von Ermordeten zurückzuführen, die von den deutschen Besatzern zu rassistischen Forschungen an die Berliner Charité gebracht worden waren. Die Vertreter der Bundesregierung jedoch verließen noch während der Rede der afrikanischen Abgesandten den Saal - ein "Tiefpunkt der deutsch-afrikanischen Beziehungen", meint Melber: "Die Verletztheit unter den Nachkommen ist stetig gewachsen."
Weder das deutsche Entwicklungsministerium noch das Auswärtige Amt sind heute zu einer Stellungnahme zu diesem Ereignis bereit - die deutsche Position zu Namibia "sei hinreichend bekannt", heißt es aus der Pressestelle des Auswärtigen Amtes. In Namibia kam es nach dem Zwischenfall zu Demonstrationen. Doch auch in Deutschland erwarte "eine kritische Öffentlichkeit jetzt, dass auf der Seite der Regierung etwas passiert", hofft Christian Kopp.
Mehr Entwicklungshilfe für Namibia
Trotz des wachsenden öffentlichen Drucks unterscheiden sich allerdings die Vorstellungen über das weitere Vorgehen, wie auch die jüngste Debatte zeigte. Die CDU/CSU-Fraktion hatte für den Antrag der Linken bei der ersten Lesung "wenig Verständnis", wie es der niedersächsische CDU-Abgeordnete Hartwig Fischer in seiner Rede vor dem Plenum formulierte: "Vielmehr stelle ich mir die Frage, ob es derzeit nicht dringendere afrikapolitische Themen gibt, die einer Befassung durch den Bundestag bedürfen." Als Beispiele nannte er die Stabilisierung des Südsudan und die Konflikte in Somalia.
Andere sehen die Forderungen als verjährt an. Die Ereignisse lägen zu lange zurück. Erst 1948 wurden die Kriterien eines Völkermordes in den Genfer Konventionen definiert. "Deutschland ist den Konventionen 1955 beigetreten", argumentiert der CDU-Abgeordnete Egon Jüttner im Gespräch mit der Deutschen Welle. Dennoch halte er "aus persönlicher Sicht", wie er betont, die Kriterien eines Völkermordes für erfüllt. Dies solle von der Regierung allerdings eher durch verbesserte bilaterale Beziehungen zu Namibia und eine weiterhin vorrangige Stellung bei der Entwicklungshilfe ausgeglichen werden. Bereits jetzt zahle Deutschland pro Einwohner 15,80 Euro an Namibia - ein Ausdruck der guten bilateralen Beziehungen, so Jüttner.
Aufstockung der Entwicklungshilfe nicht ausreichend
Aber selbst eine weitere Aufstockung der Entwicklungshilfe wäre im Fall der Herero noch zu wenig, meinen die Verbände. "Wenn Zahlungen im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit laufen, sind Geberländer stark involviert, wofür Mittel genützt werden", erklärt Christian Kopp. "Im Falle von Entschädigungszahlungen bei einem Völkermord oder bei kolonialen Verbrechen ist das unangemessen." Er fordert, dass die Nachfahren der Opfer frei darüber entscheiden sollten, wie das Geld verwendet wird. "Das ist praktisch und symbolisch wichtig: Im schlimmsten Fall werden die Mittel sonst nämlich für Zwecke vergeben, die Deutschland selbst wirtschaftlich zugute kommen."
Beide Anträge - der der Linken wie der der Grünen und der SPD - wurden vorerst zurückgewiesen. Die Geschichte sei damit aber längst nicht beigelegt, glaubt Henning Melber, der selbst lange in Namibia gelebt hat: "Gerade in Namibia gibt es ein sehr ausgeprägtes kollektives Bewusstsein über das Unrecht und eine Tradition der Oratur, der erzählenden Geschichte. Das Erlittene wird in den Erzählungen der Opfer sehr präsent bleiben."