"Cum-Ex": Der Skandal weitet sich aus
18. Oktober 2018Es geht um Steuertricks von Finanzjongleuren, bei denen der Profit allein aus Steuergeldern kommt. Und es geht um sehr viel Geld, das dem Fiskus in mindestens zehn europäischen Ländern verloren gegangen ist. Der Trick mit dem gelehrten Namen "Cum-Ex" wurde in Deutschland wie in Frankreich, Spanien, Italien und Österreich angewandt, ebenso in Finnland, Norwegen und der Schweiz und in weiteren Ländern. Das zeigen jetzt bekannt gewordene Berichte eines europäischen Medien-Recherche-Netzwerks.
Europaweit summiert sich der Schaden nach den Recherchen auf über 55 Milliarden Euro, wenn man weitere undurchsichtige Steuerkonstruktionen hinzu zählt. Das deutsche Finanzministeriums hatte bisher eingeräumt, mehr als fünf Milliarden Euro an Steuern seien entgangen, bevor die Gesetzeslücke 2012 geschlossen wurde. Christoph Spengel, Steuerexperte der Universität Mannheim, geht nach eigenen Berechnungen davon aus, dass allein dem deutschen Fiskus zwischen 2001 und 2016 mindestens 31,8 Milliarden Euro verloren gegangen sind. "Es handelt sich um den größten Steuerraub in der Geschichte Europas", sagte Spengel der "Zeit".
Recherchen von "Correctiv"
Unter der Leitung des Recherchezentrums "Correctiv" waren an der Untersuchung 19 Medien aus zwölf Ländern beteiligt. In Deutschland gehören die Wochenzeitung "Die Zeit" und der öffentliche Fernsehverbund ARD zu dem Netzwerk. Auch die Nachrichtenagentur Reuters ist beteiligt. Den Berichten nach weiten sich Ermittlungen von Staatsanwaltschaft und Finanzbehörden auf bisher nicht bekannte Banken aus. Mehr als 180.000 Seiten vertraulicher Akten sowie Unterlagen parlamentarischer Untersuchungsausschüsse, interne Gutachten von Banken und Kanzleien, Kundenkarteien, Handelsbücher und E-Mails wurden demnach ausgewertet.
Mit "Cum-Ex"-Geschäften wird die Praxis bezeichnet, um einen Dividendenstichtag herum in sogenannten Leerverkäufen Aktien mit ("cum") und ohne ("ex") Dividendenanspruch zu kaufen und zu verkaufen und sich dann eine nur einmal gezahlte Kapitalertragssteuer von den Finanzämtern mehrmals erstatten zu lassen. Bei den umstrittenen Geschäften schoben also Investoren Aktien rasch zwischen mehreren Beteiligten hin und her. Diese ließen die Papiere untereinander zirkulieren, bis dem Fiskus nicht mehr klar war, wem sie überhaupt gehörten. Das Steuerschlupfloch wurde mittlerweile geschlossen. Bei Leerverkäufen handeln Investoren mit Finanztiteln, die sie materiell gar nicht besitzen. Dividenden sind Ausschüttungen, die börsennotierte Unternehmen zu einem bestimmten Stichtag an ihre Aktionäre auszahlen.
Für die Bank: "legal"
Nach Reuters-Informationen hat die Staatsanwaltschaft Köln im Juni ein Ermittlungsverfahren gegen die spanische Großbank Santander eröffnet. Sie soll als sogenannter Leerverkäufer im Zusammenhang mit "Cum-Ex"-Geschäften aufgetreten sein. Auch das australische Geldhaus Macquarie ist ins Fadenkreuz der Ermittler geraten. Die Bank selbst hält die Geschäfte von 2011 für legal. Ein Sprecher von Santander wollte sich nicht dazu äußern, ob die Bank "Cum-Ex"-Geschäfte als unrechtmäßig einstuft.
Einem Bericht der ARD-Tagesschau zufolge sollen aber fast alle großen Banken an den Geschäften beteiligt gewesen sein. "Da können Sie sich eine aussuchen. Ich kenne kaum eine, die nicht dabei war", zitiert die ARD einen Insider. Schon im September war bekannt geworden, dass auch die Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt ihre Ermittlungen wegen der umstrittenen "Cum-Ex"-Geschäfte ausgeweitet hat. Die Strafverfolger gehen inzwischen in sieben Verfahrenskomplexen dem Verdacht der Steuerhinterziehung wegen Tricks mit Dividendenpapieren nach, wie die Behörde mitteilte.
55 Milliarden Euro Schaden?
Der größte Anteil an der nun errechnteten Schadenssumme von mindestens 55,2 Milliarden Euro entfällt auf Deutschland. Das Land hat das größte Steueraufkommen in Europa. Nach den am Donnerstag veröffentlichten "Cum-Ex-Files" kämen nun in Frankreich mindestens 17 Milliarden Euro, in Italien 4,5 Milliarden Euro, in Dänemark 1,7 Milliarden Euro und in Belgien 201 Millionen Euro dazu. Einige Staaten konnten demnach Teilbeträge zurückfordern. Für andere betroffene Länder lägen keine offiziellen Zahlen oder belastbare Marktdaten vor.
Möglich geworden ist dies den Recherchen zufolge auch dadurch, dass ein Informationsaustausch über die steuerschädlichen Umtriebe innerhalb Europas kaum stattgefunden habe. So soll Deutschland seine europäischen Nachbarn erst 2015 über eine OECD-Datenbank über die Cum-Ex-Geschäfte informiert haben, obwohl das Finanzministerium spätestens seit 2002 Bescheid gewusst habe.
Privatbank verurteilt
Im Zusammenhang mit den Steuertricks war im Juni eine Schweizer Privatbank wegen Verlusten eines Privatmanns verurteilt worden. In dem Millionenstreit mit der Schweizer Bank Sarasin hatte der Ulmer Drogerie-Unternehmer Erwin Müller dem Schweizer Geldhaus vorgeworfen, durch falsche Beratung eine Schaden von mehr als 45 Millionen Euro erlitten zu haben. Müller hatte geltend gemacht, er sei von der Bank über riskante und womöglich kriminelle Geschäftspraktiken eines von ihr vertriebenen Fonds im Unklaren gelassen worden.
Auch über diesen sogenannten Sheridan-Fonds sollten mit Cum-Ex-Transaktionen Gewinne erwirtschaftet werden, bei denen der deutsche Fiskus durch mehrfach beantragte Erstattungen auf nur einmal einbehaltene Kapitalertragssteuern geschröpft wurde.
ar/hb (rtr,dpa – ARD)