Zahl der Krankenhaus-Patienten im Fokus
2. September 2021Nun also die "Krankenhaus-Ampel". Sie gilt seit heute in Bayern und dürfte schon bald in ganz Deutschland darüber entscheiden, ob und wie Corona-Maßnahmen verschärft werden. Sie stellt die so genannte Hospitalisierungsrate in den Fokus.
Die bayerische Ampel wechselt von grün auf gelb, wenn binnen sieben Tagen 1200 Menschen wegen einer Covid-Erkrankung ins Krankenhaus mussten. Dann gelten Kontakt-Beschränkungen und eine verschärfte Maskenpflicht. Rot wird sie, wenn 600 Corona-Patienten auf bayerischen Intensivstationen liegen. Dann sollen Freiheitsrechte weiter eingeschränkt werden. Momentan steht die Ampel noch deutlich auf grün, mit 169 COVID-19-Intensivpatienten (Stand 02.09.).
"Inzidenz verliert an Aussagekraft"
Kommende Woche will der Bundestag entscheiden, ob Ähnliches bald in ganz Deutschland gilt. Weitgehend ausgedient hat damit die so genannte "Sieben-Tage-Inzidenz", die Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner der vergangenen sieben Tage erfasst. Seit Mai 2020 war sie in allen Teilen Deutschlands maßgeblich für politische Entscheidungen über Corona-Maßnahmen.
"Bei hoher Impfquote wird die Inzidenz nicht überflüssig, aber sie verliert an Aussagekraft", sagte Gesundheitsminister Jens Spahn den Zeitungen der Funke Mediengruppe. Sechs von zehn Deutschen sind mittlerweile gegen Corona geimpft und damit vor schweren Krankheitsverläufen weitgehend geschützt.
Kinder weniger gefährdet
Aktuell liegt die Sieben-Tage-Inzidenz in Deutschland bei 77, es haben sich also 77 von 100.000 Menschen innerhalb von sieben Tagen neu infiziert. In einzelnen Regionen ist sie jedoch deutlich höher. So etwa in Bielefeld im Bundesland Nordrhein-Westfalen, wo der Anteil an Infizierten mehr als doppelt so hoch ist.
"Die Inzidenz ist aktuell auch deshalb so hoch, weil sich sehr, sehr viele Kinder anstecken", sagt Intensivpfleger Ralf Berning aus Bielefeld der DW. "Aber diese Kinder landen nur in den seltensten Fällen im Krankenhaus, geschweige denn auf der Intensivstation."
Mit Delta schneller ins Krankenhaus?
Auf Bernings Intensivstation werden zur Zeit fünf COVID-19-Patienten betreut. Alle waren nicht geimpft, sagt er. "Ich finde es grundsätzlich gut, dass man von der alleinigen Betrachtung der Inzidenz abgekehrt ist und die Hospitalisierungsrate mit in den Fokus rückt", so der Pfleger. Derzeit verzeichnet das Robert Koch-Institut 1,74 innerhalb von sieben Tagen gemeldeten COVID-19-Einweisungen in die Krankenhäuser pro 100.000 Einwohner. Ende Dezember 2020 hatte der Wert zeitweise mehr als 15 betragen.
Viele Experten rechnen damit, dass die Zahl auch in diesem Herbst und Winter wieder ansteigt. Im Deutschlandfunk verwies der Leiter der Virologie der Berliner Charité, Christian Drosten, auf Studienergebnisse aus Großbritannien. Sie zeigten, dass die Hospitalisierungsrate bei der in Deutschland weit verbreiteten Delta-Variante des Virus deutlich höher liege als bislang gedacht.
"Es sind noch nicht genug Menschen geimpft"
"Natürlich hat man Angst vor einer vierten Welle", sagt Pfleger Berning. Er erinnere sich noch gut an die zweite Welle im Herbst vergangenen Jahres. "Die hat uns hier in Bielefeld und Ostwestfalen-Lippe mit voller Wucht getroffen. Wir mussten zusätzliche Intensivstationen schaffen, mussten Arbeit aufteilen. Wir haben das gewuppt bekommen in einer riesigen Teamarbeit mit ganz viel Kraftanstrengung." Nun allerdings könne man nicht noch mehr zusätzliche Kapazitäten in den Krankenhäusern schaffen, weil viele Kollegen angesichts der schweren Arbeitsbelastung gekündigt hätten.
"Auch wenn ein COVID-Patient beatmet wird und im künstlichen Koma liegt und quasi nichts macht, ist er doppelt so aufwendig, wie ein normaler Intensiv-Patient", erzählt der Pfleger. "Und wenn sie nicht genügend Personal haben, dann können Sie sich ungefähr vorstellen, dass es dann langsam auch wieder knapp wird. Und das ist nicht nur bei uns so, das ist in vielen anderen Häusern noch dramatischer als bei uns. Es sind einfach noch nicht genug Menschen geimpft."
Wieder ein Flickenteppich?
Wie strikt Corona-Maßnahmen bei steigenden Hospitalisierungsraten ausfallen, ist momentan noch unklar. Stimmt der Bundestag der Neuregelung nächste Woche zu, dann kann jede Landesregierung im Anschluss selbst bestimmen, welche Maßnahmen bei welchen Grenzwerten greifen.
"Was jedoch fehlt, ist eine bundesweite Leitzahl", sagt Eugen Brysch, Vorsitzender der Deutschen Stiftung Patientenschutz, im DW-Gespräch. "Es ist eine politische Entscheidung, wie hoch die Belastung des medizinisch-pflegerischen Personals in den Kliniken ist und wie groß das Risiko für die Patientinnen und Patienten sein soll", so Brysch. "Wann sollen wir denn Alarm schlagen? Bei 5 Prozent oder bei 10 Prozent Belegung? Im Frühjahr waren wir einmal bei 15 Prozent und da waren wir in einigen Regionen an der Kapazitätsgrenze."
Sieben-Tage-Inzidenz weiter im Blick
Brysch kritisiert, dass Gesundheitsminister Spahn den Ländern hier keine Vorgaben macht. "Und das wird dann wieder ein Tohuwabohu bringen", sagt er. Das zeige schon jetzt das Beispiel Bayerns. "Die arbeiten ja mit zwei Hospitalisierungsinzidenzwerten. Einmal für die Normalstation und einmal für die Intensivstation. Wenn das Schule macht, werden wir deutschlandweit 32 verschiedene Modelle haben." Brysch befürchtet, dass Eingriffe in die Freiheitsrechte bei gleicher Hospitalisierungsrate regional völlig unterschiedlich ausfallen könnten.
Ganz verzichten, wird man in Deutschland auf die bisherige Sieben-Tage-Inzidenz wohl auch in Zukunft nicht. Ihr Vorteil: sie steigt an, bevor die Zahl der Krankenhauseinweisungen nachzieht. Auch die aktuelle Regelung in Bayern sieht vor, dass bei regional mehr als 35 Neuinfektionen binnen sieben Tagen Grundrechte eingeschränkt werden. Zugang zu vielen öffentlichen und privaten Einrichtungen haben dann nur Genesene, Geimpfte oder Personen, die einen negativen Corona-Test vorweisen.