Wann kommt die zweite Infektionswelle?
20. Mai 2020Es schien zunächst, als würde sich das Leben für sehr lange Zeit hinter verschlossenen Türen abspielen. Vielleicht sogar bis zum Ende der Sommerferien. Doch dann änderte sich plötzlich die Wetterlage - und die Türen öffneten sich früher als gedacht. In Deutschland, Spanien, Griechenland und andernorts wurden die restriktivsten Beschränkungen aufgehoben.
Sogar Großbritannien, das in Europa eine der höchsten Zahlen an Infektionen und Todesfälle durch COVID-19 zu verzeichnen hat, denkt über eine "erneute Öffnung der Wirtschaft" nach, wie es mehrere Spitzenpolitiker in den letzten Tagen gefordert haben.
Indien verlängerte seinen Lockdown Anfang des Monats zwar um weitere zwei Wochen. Die Besorgnis aber wächst, dass eine zweite globale Infektionswelle über den Planeten hinwegrollen könnte, wenn die Länder ihre Beschränkungen zu früh aufheben.
Diese zweite Welle ist mehr oder weniger unvermeidlich. "Dieses Virus könnte sich zu einem weiteren endemischen Virus in unseren Gesellschaften entwickeln", sagt Mike Ryan Direktor des Health Emergencies Programme der Weltgesundheitsorganisation (WHO) bei einer Pressekonferenz. "Es wird vielleicht niemals verschwinden."
Mehr Geduld, mehr Lockdown?
Auch andere Viren, das HI-Virus beispielsweise, seien nicht einfach wieder verschwunden, so Ryan. Stattdessen haben Forscher Medikamente entwickelt, die das Virus in Schach halten und ein Leben in Koexistenz mit den Erregern möglich machen. Nur die wenigsten tödlichen Viren, wie beispielsweise die Pocken, konnten ausgerottet werden.
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Alle anderen Erreger, sowohl Viren als auch Bakterien, sind weiterhin unter uns. Zwischendurch erleben einige ein Comeback - wie die bakterielle Infektionskrankheit Tuberkulose. Ein Blick zurück macht deutlich, dass die zweite Welle einer Pandemie schlimmer sein kann als die erste. So war es 1918 bei der Spanischen Grippe. Sie verlief in Wellen bis sie dann 1920 schließlich abebbte.
Sollten wir also etwas mehr Geduld haben? Und im Lockdown bleiben?
Deutschland: Ein kontrolliertes Experiment?
Als Ende April die Reproduktionsrate "R" des Coronavirus vom Schwellenwert 1,0 auf 0,76 fiel, vereinbarten die deutsche Regierung und die Gesundheitsbehörden, die Schulen teilweise wieder zu öffnen. Das galt für all die Schüler, denen im Herbst wichtige Prüfungen bevorstehen oder die von der Grundschule in eine weiterführende Schule wechseln sollen.
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Die Schulen begannen, Klassenräume neu zu gestalten und Spielplätze in Sicherheitszonen aufzuteilen. So wollten sie gewährleisten, dass die Abstandsregeln und auch die Hygienevorschriften eingehalten werden.
Doch bevor die Schulen und die Schüler die Möglichkeit hatten, wieder zum Unterricht zurückzukehren und diese Ad-hoc-Sicherheitskonzepte einem Testlauf zu unterziehen, beschloss die Regierung, die Restriktionen weiter zu lockern: Auch jüngere Kinder sollten für jeweils einen Tag in die Schule gehen dürfen.
Auch Zoos und Museen öffnen ihre Tore unter neuen Auflagen. Diese sollen sicherstellen, dass die Besucher die vorgegebenen Abstände einhalten. Das funktioniert auf Spielplätzen, die seit dem 7. Mai wieder genutzt werden dürfen, allerdings nur sehr eingeschränkt. Zwischen Kindern schrumpft der gebotene Mindestabstand von 1,5 Metern ganz schnell auf 1,5 Zentimeter.
War das Ganze also nur ein kontrolliertes Experiment, um gutes Benehmen zu testen? Deutschland ist immerhin eine Demokratie, "die auf Vertrauen aufgebaut ist", sagte Bundeskanzlerin Angela Merkel letzte Woche, als sie die Lockerung der Vorschriften ankündigte.
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Vertrauen hin oder her - der WHO wäre es viel lieber, wenn der Übergang vom Lockdown "evidenzbasiert und datengesteuert" wäre und außerdem "schrittweise umgesetzt" würde, um so "das Risiko neuer Ausbrüche zu reduzieren".
"Im Idealfall sollten zwischen den einzelnen Phasen mindestens zwei Wochen liegen (entsprechend der Inkubationszeit von COVID-19) damit genügend Zeit ist, sich dem Risiko neuer Ausbrüche bewusst zu werden und angemessen zu reagieren", so die WHO in ihrem Strategie-Update zu COVID-19 vom 19. April.
Davon kann in Deutschland keine die Rede sein. Die Schulen starteten die zweite Öffnungsphase bereits vier Tage nachdem der Unterricht für höhere Stufen wieder begonnen hatte - ohne den empfohlenen zweiwöchigen Zwischenraum also.
Die Bundesregierung hat die Verantwortung für die Lockerungen und die darauffolgenden Entwicklungen an Bundesländer und Kommunen übergeben. Sobald eine Region innerhalb einer Woche 50 neue Fälle von Corona pro 100.000 Einwohner zu verzeichnen hat, sollen die Daumenschrauben wieder angelegt und erneut strenge Restriktionen eingeführt werden.
Kein internationaler Standard
Allerdings sind diese 50 Fälle pro 100.000 Einwohner erstmal nur Zahlen. Es scheint keinen einheitlichen, globalen Standard dafür zu geben, was die zweite Welle einer Epidemie oder Pandemie eigentlich bedeutet.
Die 'zweite Welle' sei kein feststehender Fachbegriff, schreibt der WHO-Sprecher Christian Lindmeier in einer E-Mail an die DW. "Der Begriff bezieht sich [nur] auf erneute Ausbrüche, die es nach einem anfänglichen Rückgang gegeben hat. Dasselbe gilt also auch für eine 'dritte' Welle."
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Einige Forscher in Deutschland, darunter die Epidemiologin Eva Grill von der Ludwig-Maximilians-Universität München und der Epidemiologe Rafael Mikolajczyk von der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, sind der Meinung, dass 50 Fälle pro 100.000 Einwohner zu viele sind. Die Gefahr sei groß, dass das Gesundheitssystem mit derart vielen Neuinfektionen nicht fertig werden könnte. Es könnte dann auch einfach zu spät sein, um die Ausbreitung zu stoppen.
Sollte es so weit kommen, müssten erneut Städte abgeriegelt werden. Der geplante Unterricht in Klassenzimmern würde Schiffbruch erleiden, die Wirtschaft ebenso. Wir würden alle Anstrengungen in Kauf nehmen, um auch diesem Lockdown schnell wieder zu entkommen. Sinkt die Zahl der Neuinfektionen dann wieder, kämen die Lockerungen. Ein Kreislauf, mit dem wir eventuell lernen müssen zu leben.
"Wenn die Krankheit in Ländern auf niedrigem Niveau fortbesteht, ohne dass es genügend Kapazitäten für Untersuchungen und die Identifizierung von Clustern gibt, dann besteht immer die Gefahr, dass die Krankheit wieder ausbricht", heißt es seitens der WHO. Das gilt insbesondere dort, wo sich Menschen in Massen tummeln: In Großstädten, in Flüchtlingslagern und an Orten, an denen keine Möglichkeit besteht, soziale und körperliche Distanz zu wahren."
Gekommen, um zu bleiben
Die Spanische Grippe von 1918 kam in drei großen Wellen. Die Pandemie begann ihren Feldzug im März 1918 und erreichte ihren Höhepunkt während einer zweiten Welle am Ende desselben Jahres. In der Zwischenzeit war das Virus so mutiert, dass die Folgen einer Infektion während der zweiten Welle noch verheerender waren.
Die Centers for Disease Control and Prevention (CDC) in den USA gehen davon aus, dass die zweite Welle der Grippepandemie für die Mehrheit der Todesfälle in den Vereinigten Staaten - dem vermuteten Ursprungsland der Virus - verantwortlich war.
Anfang 1919 kam eine dritte Welle. Sie dauerte bis Mitte des Jahres, dann flaute die Spanische Grippe dem CDC zufolge ab. Schätzungen zufolge fielen der Krankheit bis zu 50 Millionen Menschen zum Opfer. Ganz verschwunden ist das Virus wahrscheinlich nie.
Einige Virologen gehen davon, dass ein Virus mit den nachfolgenden Mutationen schwächer wird und so weniger tödlich ist. Das liegt nicht nur daran, dass bereits mehr Menschen eine Immunität gegen den Erreger entwickelt haben. Das Virus ist außerdem auf lebende Wirte angewiesen, die es braucht, um sich zu vermehren und selbst zu überleben. So wird es zum festen Mitglied unserer Gesellschaft.
Laut einer 2006 erschienen Studie, sind fast alle Fälle von Influenza A - einer Influenza, die Vögel und Säugetiere befällt - seit der Spanischen Grippe "durch Nachfolger des Virus von 1918 verursacht worden".
Bereits jetzt kündigen sich erste Vorboten einer zweiten Welle des neuartigen Coronaviruses an: China und Russland verzeichnen Neuinfektionen und sogar in Südkorea, das für seine Eindämmung der ersten Welle gelobt worden war, stecken sich wieder Menschen mit SARS-CoV-2 an.
Eher früher als später
Jetzt, da in der nördlichen Hemisphäre der Sommer beginnt und Griechenland und Spanien trotz des Virus auf Touristen hoffen, könnte die zweite Welle eher früher als später auf uns zurauschen. Davon geht auch eine Studie aus, die im April in der medizinischen Fachzeitschrift The Lancet erschien.
Eine große Welle von Neuinfektionen würde eine zweite Welle von Lockdowns nach sich ziehen.
"Genau das versuchen wir zu vermeiden", erklärt Ryan. "Wir hoffen und vertrauen darauf, dass Deutschland, Korea und andere Länder in der Lage sein werden, die Cluster zu unterdrücken. In einigen Fällen - etwa auf subnationaler Ebene - müssen sie vielleicht einige konkrete Maßnahmen durchsetzen, um so bestimmte Arten der Übertragung zu reduzieren."
Könnte sein, dass wir alle unseren Urlaub noch einmal umbuchen müssen.