"Ich könnt‘ auch einfach liegenbleiben"
26. März 2020Unter normalen Umständen hätte ihr das alles weniger zugesetzt. Diesmal aber war es zu viel. Jacqueline Krützmann war krank: Husten. Daher wollte sie lieber nicht das Haus verlassen, sich lieber nicht den misstrauischen Blicken der anderen aussetzen. Nicht in dieser Zeit. Mit einem sensiblen Gespür für die Ausnahmesituation witterte ihr Sohn seine Chance und "drehte so richtig auf", lief im Wohnzimmer auf und ab, sprang unermüdlich auf dem Sofa herum. Jacqueline Krützmann konnte bald nichts anderes tun, als sich auf den Boden zu setzen. Die Situation über sich ergehen zu lassen. Zu warten. Bis es vorbei war.
"Menschen mit einer psychischen Erkrankung tragen einen Rucksack auf ihrem Rücken.", veranschaulicht Ute Lewitzka, psychiatrische Oberärztin am Dresdner Uniklinikum und Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Suizidprävention. "Es gibt Zeiten, in denen dieser Rucksack relativ leicht ist und sie in ihrem Alltag ganz gut klarkommen. Und dann wiederum gibt es Zeiten, in denen der Rucksack sehr, sehr schwer wird: Wenn äußere Belastungsfaktoren auftreten oder Stresssituationen über einen längeren Zeitraum bestehen. Und dazu zählt natürlich diese ganze Geschichte, die wir gerade erleben."
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450 Millionen Betroffene weltweit
Die Welt ist aus den Fugen. Besonders belastend ist das für Menschen, für die die Welt manchmal eh schon weniger einladend erscheint. Weltweit sind das derzeit 450 Millionen. Auch für Jacqueline Krützmann ist der Rucksack nichts Unbekanntes. Sie ist 33 Jahre alt, 20 Jahre davon teilt sie mit einer posttraumatischen Belastungsstörung, die sich in Depressionen und Ängsten äußert. Eigentlich fühlt sie sich recht stabil, hat sich selbst und die Erkrankung in Klinikaufenthalten und Therapien auseinandergenommen, nimmt ein Medikament gegen die Depression.
Dann kam Corona. Schlagartig bricht Jacqueline Krützmanns Tagesstruktur weg. Die Uni fällt aus. Die Aufgaben weg. Die im gemeinsamen Haushalt wohnende Ex-Frau arbeitet nun von zu Hause. Von Tag zu Tag fällt es Jacqueline Krützmann schwerer, morgens aufzustehen. Es wird mühsam, Freunde anzurufen, dazu muss sie sich aufraffen. Weil sie Probleme mit ihrem Selbstwertgefühl hat, vermeidet sie Situationen, in denen Menschen sie schief anschauen könnten. Husten in der Öffentlichkeit zum Beispiel.
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Depressionen, Angst- und Zwangserkrankungen
Mit ihrer depressiven und ängstlichen Symptomatik gehört Jacqueline Krützmann zu zwei von drei Patientengruppen, die in dynamischen Corona-Zeiten besonders gefährdet sind: Für Depressive kann das plötzliche Wegfallen von Alltagsroutinen zu sozialem Rückzug und Verlust der Tagesstruktur führen. Für Angstpatienten stellen aktuelle Katastrophen-Nachrichten quasi ein Sprungbrett in Gedankenkreisen, Traurigkeit oder Gereiztheit dar.
Für Menschen mit Zwangserkrankungen oder der Neigung zu zwanghaftem Verhalten schließlich sind die permanenten Aufforderungen zu penibler Händehygiene Nährboden für Wasch- oder Kontrollzwänge. "Es handelt sich ja um eine diffuse Angst", meint Dietrich Munz, Präsident der Bundespsychotherapeutenkammer, "wir sehen die Viren nicht. Wir können nur fantasieren, wo sie überall sein könnten."
Strukturen fallen weg
Gleichzeitig führen Schutzmaßnahmen gegen eine Ausbreitung des Coronavirus dazu, dass gewohnte Strukturen zusammenbrechen und Betreuungsangebote sich verändern. Ruth Belzner von der Würzburger Telefonseelsorge berichtet, dass die Zahl der Anrufe zugenommen habe, von 32 auf 50 pro Tag. Einen Grund hierfür sieht sie darin, dass sozialpsychiatrische Angebote wegfallen: keine offenen Treffs mehr, keine Gruppentreffen, keine gemeinsamen Ausflüge. In Bayern ist die TelefonSeelsorge jetzt systemrelevant.
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"Ähnlich einem Suchtgedächtnis gibt es auch bei Angstpatienten einen Mechanismus, der im Gehirn abläuft und sich verstärkt: Ein Angstgedächtnis.", erklärt Ute Lewitzka. "Anders als Gesunde müssen Menschen mit Angststörungen viel mehr Kraft aufwenden, um die im Angstgedächtnis abgespeicherte Angst nicht zu stark werden zu lassen.
Das ist bei Angststörungen durchaus möglich und passiert beispielsweise im Rahmen von Therapien. Es braucht aber Zeit und ist immer dann, wenn Stresssituationen auftreten, besonders fragil, denn das Auftreten von Stress kann die Kontrollzentren der Angst schwächen. Diejenigen, die schon Therapieerfahrung haben, müssen eher mal darauf zurückgreifen: Was habe ich in der Therapie gelernt? Was kann ich jetzt anwenden?"
Auch Gefahren für die körperliche Gesundheit
Wie Forscher aus Harvard und Shanghai in der Fachzeitschrift Lancet Psychiatry zeigen, beschränkt sich die Gefährdung psychisch kranker Menschen in der aktuellen Pandemie jedoch nicht allein aufs Seelenheil: Neben dem Risiko einer psychischen Parallel-Epidemie weisen sie darauf hin, dass psychische Erkrankungen das Risiko für körperliche Infektionen erhöhen können, wenn Patienten kognitive Einschränkungen, ein geringeres Risikobewusstsein und weniger Selbstfürsorge hätten. Darüber hinaus sei es für diese Menschen schwieriger, eine körperliche Therapie zu erhalten, da Diskriminierungen immer noch stark ausgeprägt seien.
In gewisser Hinsicht könnten psychische Vorerkrankungen auch eine Stärke darstellen, meint Jacqueline. Viele psychisch Erkrankte seien eh schon vorsichtig mit dem, was sie glauben und was nicht. Wenn sie einen Klinik-Aufenthalt hinter sich hätten, wären sie darüber hinaus auch vertraut mit Momenten sozialer Isolation, da man in stationären Therapien in den ersten Wochen den Kontakt nach außen häufig vermeiden soll, sich quasi in Quarantäne befindet. Und schließlich sei eine Therapie auch einfach eine gute Vorbeugung gegen den Ausbruch psychischer Krankheiten.
Psychiater, Psychotherapeuten und Krisendienste sind nun damit konfrontiert, die erhöhte Verwundbarkeit psychisch kranker Menschen aufzufangen. "Wir nehmen die Ängste wahr und signalisieren: Es sind wirklich schwierige Zeiten", erklärt Ute Lewitzka. "Nicht wenige Menschen neigen dazu, häufig durch eine eher negative Brille zu gucken und nur die Sorgen und Ängste zu sehen. Wir versuchen, diese Menschen anzuleiten, ein Stück wieder aus diesem Blickwinkel rauszukommen, und zu sagen: Was geht denn gerade unter diesen Umständen noch gut? Auch das kann Menschen helfen."
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Tele-Therapie mit Vorsicht zu genießen
Gleichzeitig stehen Therapeuten vor dem Problem, dass auch für sie Schutzmaßnahmen gelten und körperliche Nähe reduziert werden soll. Die stationäre Arbeit werde aufrechterhalten, Notfallbehandlungen fortgeführt, auch die ambulante Psychotherapie laufe mit den gegebenen Schutzmaßnahmen oft weiter, berichten Munz und Lewitzka. In Absprache mit den Patienten könne die Therapie aber auf Telefon oder Video verlagert werden.
Da fehle ihr zwar der persönliche Eindruck, der in der Psychiatrie und Psychotherapie sehr wichtig sei, bemerkt Ute Lewitzka, "aber ich bekomme einen Eindruck, wie es meinem Patienten geht und kann gegebenenfalls doch eine persönliche Vorstellung anregen."
"Das ist nichts, was ich mit meinem Schlafzimmer oder ähnlichem in Verbindung bringen will", meint jedoch Jacqueline Krützmann. "Das möchte ich gerne in einem neutralem Raum machen, wo ich danach rausgehen und das für mich verarbeiten kann." Sie will lieber ihre Tagesstruktur stabilisieren. "Dass man aufsteht, frühstückt, sich überlegt: Was habe ich heute alles auf meinem Plan? Und das dann auch wirklich macht, anstatt zu sagen: Ach, kann ich ja morgen noch machen. Sondern dass man sich auch in den Arsch tritt und sagt: Mach ich jetzt. Oder sich halt einfach auch wirklich Aufgaben sucht."
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Online-Trainings als Unterstützung
David Daniel Ebert ist Gründer und wissenschaftlicher Leiter der Online-Plattform "HelloBetter", die Menschen mit digitalen Online-Trainings bei der Bewältigung psychischer Erkrankungen unterstützen und der Entwicklung psychischer Erkrankungen entgegenwirken will. Er ist außerdem Professor für Klinische Psychologie an der Freien Universität Amsterdam und einer der Vorreiter der digitalen Psychotherapie. In Corona-Zeiten arbeiten er und seine Kollegen daran, ihre Online-Angebote zur Bewältigung der hohen Beanspruchung durch die Corona-Pandemie an die aktuellen Bedürfnisse anzupassen. So haben sie eine kostenfreie psychologische Telefonhotline (Telefon aus Deutschland: 0800 000954) und regelmäßige digitale Frage-Antwort-Sitzungen mit Psychologen und Psychotherapeuten eingerichtet.
In einer von Psychologen moderierten Online-Community könne man sich leichter austauschen, Sorgen und Strategien miteinander teilen. "Social distancing" ist für David Daniel Ebert zudem die falsche Maßgabe, man müsse eher von "physical distancing" sprechen und versuchen, kreativ auf Distanz beisammen zu sein: "Wir Menschen sind nicht gemacht für soziale Isolation."
Nach der Krise ist vor der Krise
Als Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Suizidprävention plädiert auch Ute Lewitzka für mehr Gemeinsamkeit. Sie schätzt die gerade aufkeimende Solidarität sehr. "Das, was wir jetzt an so vielen kleinen Stellen erleben, diese Hilfen, diese Kreativität, sind ja ein Potenzial, das Menschen signalisiert: Wir schaffen das. Wir kommen da zusammen durch."
Gleichzeitig warnt sie vor der Zeit nach Corona. "In Zeiten von Naturkatastrophen sehen wir, dass Suizidraten vorübergehend sogar absinken können. Kritisch werden kann es, wenn das Ereignis vorbei ist. Wenn es nicht mehr ums Überleben, sondern darum geht, wie es jetzt mit der Existenz weiter geht und man realisiert, was während eines solchen Ereignisses alles kaputtgegangen ist. Da kann die Suizidalität durchaus wieder stärker werden." Natürlich ist dies nicht als Vorhersage gemeint, da Suizidalität selten auf eine einzelne Ursache zurückzuführen ist. Schwierig wäre es, wenn man nach der Krise wieder in den altbekannten Individualismus zurückfällt.
"Das ist, glaube ich, worauf wir am allermeisten aufpassen müssen."
Kontakte in Deutschland zu Selbsthilfegruppen bei Depression gibt es bei der Initiative: Du Bist Wichtig
Die Deutsche Welle berichtet zurückhaltend über das Thema Suizid, da es Hinweise darauf gibt, dass manche Formen der Berichterstattung zu Nachahmungsreaktionen führen können. Sollten Sie selbst Selbstmordgedanken hegen oder in einer emotionalen Notlage stecken, zögern Sie nicht, Hilfe zu suchen. Wo es Hilfe in Ihrem Land gibt, finden Sie unter der Website befrienders.org. In Deutschland finden Sie Hilfe bei der Telefonseelsorge unter den kostenfreien Nummern 0800/111 0 111 und 0800/111 0 222.