Corona: Häusliche Gewalt könnte zunehmen
21. März 2020Für viele Kinder ist die Schule ein Ort, wo man lernt und sich mit anderen trifft. Für andere ist sie ein sicherer Ort, eine schützende Umgebung, nämlich für Kinder aus unsicheren häuslichen Verhältnissen, wo sie möglicherweise Missbrauch ausgesetzt sind. 2018 gab es laut Polizeistatistik 4000 Fälle von Kindesmissbrauch in Deutschland. Die Zahl von sexuellem Kindesmissbrauch lag mit 14.000 noch deutlich höher.
Die Enge fördert Konflikte
Jetzt, da Deutschland unter anderem durch Schulschließungen die Ausbreitung des Virus zu verlangsamen hofft, warnen Kinderschutzorganisationen vor einer möglichen Zunahme von Kindesmissbrauch. Für einige Kinder könnte die Situation lebensbedrohlich werden, so Rainer Rettinger, der Geschäftsführer des Deutschen Kindervereins: "Die Enge, sich nicht aus dem Weg gehen können, fördert Konflikte und steigert die Aggressivität", so Rettinger und fügt hinzu, dass Kinder von süchtigen Eltern besonders im Fokus stehen sollten. "Nun ist in Zeiten der Corona-Krise so ein Kind mit den Eltern allein", so Rettinger. "Keiner, der die Not der Eltern sieht. Keiner, der die Not des Kindes sieht. Keiner, der hilft."
Mehr Unterstützung online
Auch Hilfszentren und Jugendgruppen praktizieren derzeit das "social distancing", also das Abstandhalten. Kinderschutzorganisationen fordern vor diesem Hintergrund mehr Unterstützung auf digitalen Plattformen, auch in den sozialen Medien, um Kinder und Familien über bestehende Hilfsprogramme aufzuklären. "Kinder müssen angesprochen und Teil dieser Informationen werden", sagt Stefanie Fried von Save the Children Deutschland. "Momentan werden Kinder hauptsächlich von Erwachsenen informiert, aber die verletzlichsten unter ihnen erhalten gegebenenfalls nicht die richtigen Informationen, vor allem jetzt, wo sie nicht zur Schule gehen."
Obwohl sie die Aufrufe zum Abstandhalten und andere Maßnahmen der Bundesregierung grundsätzlich unterstützt, warnt Fried vor den längerfristigen Schwierigkeiten, die ein wochenlanges Zuhausebleiben für Familien mit sich bringen kann: "Wir dürfen nicht vergessen, dass Kinder keine Erwachsenen sind. Sie haben einen Bewegungsdrang und müssen sich austoben. Solche Maßnahmen lassen sich für kurze Zeit aufrechterhalten, aber dann muss der Staat wieder für Bewegungsmöglichkeiten für Familien an der frischen Luft sorgen."
Sorge vor häuslicher Gewalt
Hilfseinrichtungen und Beratungszentren warnen außerdem davor, dass es in den nächsten Wochen zu deutlich mehr Gewalt zwischen Erwachsenen kommen könnte: Mehr Menschen arbeiten von zu Hause; wegen der wirtschaftlichen Auswirkungen des Coronavirus sind andere entweder von Arbeitslosigkeit bedroht oder bereits entlassen. All das steigert zu Hause den Stress.
Ähnliche Entwicklungen wurden aus China berichtet, wo es nach Wochen der strengen Isolationsmaßnahmen dreimal so viele Fälle von häuslicher Gewalt gab wie sonst. "Wegen der aktuellen Maßnahmen in Deutschland verlässt der gewalttätige Partner weniger die Wohnung als sonst, was es für das Opfer fast unmöglich macht, Hilfe zu suchen und Beratungsstellen anzurufen", so Katja Grieger vom Bundesverband Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe – Frauen gegen Gewalt e.V. (bff) im Gespräch mit der Deutschen Welle.
Hausbesuche durch Unterstützungsnetzwerke und Sozialdienste werden wegen des COVID-19-Infektionsrisikos derzeit reduziert. "Wir fordern deshalb Nachbarn auf, extra aufmerksam zu sein, was mögliche Fälle von häuslicher Gewalt angeht", so Grieger. "Wenn Sie in einer Nachbarwohnung lautes Rufen oder Schreien hören, rufen Sie die Polizei."
Falls es zu Ausgangssperren kommt, wird die Situation noch schwieriger. Dann werden Opfer von häuslicher Gewalt praktisch mit dem Täter eingesperrt.
Hilferufe an die Politik
Laut dem Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) hat man die Probleme "auf dem Schirm". Bisher hat sich Ministerin Franziska Giffey (SPD) allerdings noch nicht zum Thema häusliche Gewalt und Kindesmissbrauch vor dem Hintergrund von Corona geäußert.
Die Spendenbereitschaft von Privatpersonen und Unternehmen wird wohl abnehmen, je mehr das Coronavirus den Gürtel enger schnallen lässt, aber der Vorsitzende des Deutschen Kindervereins, Rettinger, warnt, "dass wir nicht einfach darauf vertrauen dürfen, dass alles gut wird". Der Druck auf die Politik wächst, die Verletzlichsten der Gesellschaft wirklich zu schützen. Dafür müsste die Politik jetzt finanzielle Unterstützung anbieten und alle möglichen Ressourcen zur Verfügung stellen.
Sind Sie in Deutschland, haben Gewalt erlebt und benötigen vertraulichen Rat? Dann rufen Sie das Hilfetelefon an: 08000 116 016. Oder gehen Sie auf hilfetelefon.de.