Sind die Flüchtlingslager gewappnet?
12. März 2020Das Coronavirus hat die Insel Lesbos erreicht. Dort infizierte sich ein Einheimischer mit dem Erreger. Außerdem soll es vier weitere Verdachtsfälle auf der Insel geben. Zwei der möglicherweise Infizierten leben in einem Flüchtlingslager. Das bestätigt die Sorgen der griechischen Behörden, die Anfang der Woche vor dem Ausbruch einer Epidemie in den Lagern warnten.
Wäre das Virus in Flüchtlingscamps beherrschbar? Nein, erklärte der türkische Botschafter in den USA dieser Tage in einem Pressegespräch. Der Versuch, eine Ausbreitung des Virus zu verhindern, sei eine "Mission impossible" - "unmöglich".
Doch wie verlässlich sind solche Aussagen? Politikwissenschaftler warnen, eine Verknüpfung des Flüchtlings- mit dem Pandemiethema ließe sich politisch missbrauchen. Eine entsprechende Rhetorik könne die vor dem Krieg geflohenen Menschen stigmatisieren. "Es besteht die Gefahr, dass Menschen das Thema für ihre Zwecke instrumentalisieren", sagt Rene Wildangel vom Berliner Büro des European Council on Foreign Relations.
"Die Debatte über die Aufnahme zusätzlicher Flüchtlinge in Europa wirkt längst spaltend und polemisch. Die Sorge vor einer wachsenden Gefahr innerhalb der Lagern könnte den Diskurs noch einmal verschärfen."
Die Diskussion fällt in eine Zeit, in der die Aufnahme von Flüchtlingen wieder hitzig debattiert wird. Die Angriffe des Assad-Regimes und seiner Verbündeten auf die Region Idlib und die Einladung des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan, Flüchtlinge könnten die türkische Grenze Richtung Griechenland passieren, haben die EU-Staaten unter Zugzwang gesetzt.
Syrien: Lager ohne Wasser
Millionen Menschen sind vor dem Krieg innerhalb Syriens, in arabische Staaten, in die Türkei und weiter geflohen. In den Lagern auf syrischem Boden sind nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zwar keine Fälle einer Coronainfektion bekannt. Allerdings sei das "fragile Gesundheitssystem" des Landes womöglich nicht in der Lage, eine Epidemie festzustellen und darauf zu reagieren, sagt WHO-Sprecher Hedinn Halldorsson. "Ganz Syrien hat ein zersplittertes Gesundheitssystem. Im Grunde liegt es am Boden. Da versteht es sich von selbst, dass es riesige Herausforderungen gibt."
In Syrien sind insgesamt 6,2 Millionen innerhalb des Landes geflohen. Die jüngsten Angriffe des Regimes gegen die nördliche Provinz Idlib haben rund drei Millionen Menschen in die Region mit ursprünglich 500.000 Einwohnern vertrieben. "Käme es jetzt zu einem Ausbruch (der Epidemie), würde die Situation sich enorm verschlechtern", sagt Orwa Khalifeh von der Syrian American Medical Society. Die in Idlib engagierte Organisation arbeitet an einem Plan zur Bekämpfung des Virus.
Insgesamt ist die Lage in Idlib unübersichtlich. In Idlib und Ankara werde Personal geschult, zugleich würden die Labors mit Diagnose-Kits ausgestattet, sagt Halldorsson. Khalifeh hingegen erklärt, der Mangel an Intensivstationen in der Region stelle ein großes Problem dar. Die Gesundheitsverwaltung von Idlib habe keine Krankenhäuser mehr, in denen man Patienten isolieren könnte.
Zwar versuchen einige NGOs in der Region, das Bewusstsein für Hygiene - etwa häufiges Händewaschen - zu steigern. Zugleich aber gibt es in einigen Lagern kein Wasser. "Das ist ein Problem", so Khalifeh.
Jordanien: Überwachung senkt Risiken
In Jordanien ist die Situation offenbar stabiler: In den Lagern wurden keine COVID-19-Fälle festgestellt. Es gebe keine Risiken, sagt Mohammad Hawari, Sprecher des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR in Jordanien. "Das liegt daran, dass die Präventivmaßnahmen innerhalb der Lager die gleichen sind wie außerhalb."
Dennoch könnten sich durch die beengten Lebensbedingungen in den Lagern Infektionen schneller ausbreiten als anderswo. Darum wurden Bildungsprogramme aufgelegt und das Gesundheitssystem ist vorbereitet. "Die Krankenhäuser in den Lagern sind bereit, auf jede Situation zu reagieren. Wir haben schon früher ähnliche Krisen wie SARS erlebt", sagt Hawari. Der Punkt, an dem Maßnahmen greifen, sei damals wie heute vergleichbar.
Wildangel, der vor kurzem in dem riesigen Lager Zaatari war, bestätigt diesen Befund: "Das Risiko dort ist geringer, weil sehr genau überwacht wird, wer ein- und ausgeht. Für die Gesundheitsdienste ist es recht einfach, die Risiken einzuschätzen - und das, obwohl die Bedingungen nicht ideal sind."
In Jordanien werden die Lager in Übereinstimmung mit den Grundsätzen des UNHCR betrieben, das heißt, sie werden in die Notfallpläne der Regierung für den Ausbruch einer Seuche integriert. So spiegeln die Bedingungen in den Lagern meist die Situation des Gastlandes.
Libanon: Flüchtlinge nicht registriert
Der Libanon verzeichnet bisher landesweit über 40 COVID-19-Fälle. Besonders schwierig ist, erkrankte Flüchtlinge zu erreichen. Die Regierung hatte zu Beginn des Krieges in Syrien beschlossen, keine formellen Lager einzurichten. Entsprechend schwierig sind die meisten der anderthalb Millionen syrischen Flüchtlinge durch die Gesundheitsdienste zu erreichen.
"Hunderttausende Flüchtlinge, die unter den erbärmlichsten Bedingungen in großen libanesischen Städten und im Bekaa-Tal leben, werden oft nicht registriert. Sie haben keinen Zugang zu Gesundheitsdiensten", sagt Wildangel. "Daher ist das Risiko dort wahrscheinlich noch höher als anderswo."
Man arbeite mit der Regierung und anderen UN-Organisationen daran, Notfallpläne für den Fall einer weiteren Ausbreitung des Virus zu entwickeln, sagt Lisa Abu Khaled, UNHCR-Sprecherin für den Libanon. Auch sei man dabei, die Flüchtlinge für Hygiene und vorbeugende Maßnahmen zu sensibilisieren.
Europa: Corona nicht auf die Flüchtlinge schieben
Am Montag war ein Bewohner der griechischen Insel Lesbos positiv auf das Virus getestet worden. Berichten zufolge war er zuvor nach Israel und Ägypten gereist. Womöglich könnte die Sorge, dass das Virus sich in den griechischen Flüchtlingslagern verbreitet, die EU-Staaten zu einer harten Debatte verleiten.
"Die rechtsextreme AfD und andere Bewegungen stellen Flüchtlinge bereits als Vorboten allen Übels und aller Krankheiten dar. Wenn sich die Gelegenheit ergäbe, zusätzliche Angst zu schüren, würden sie diese bestimmt nutzen", sagt Wildangel. "Allerdings ist es ein bisschen zu spät, um das Coronavirus auf die Flüchtlinge zu schieben - selbst für den rechten Flügel der Partei."