"Querdenker": Friede, Freude, Feinde
28. März 2021"Querdenken verabschiedet sich aus der Winterpause", verkündete Michael Ballweg Ende Januar in einer Videobotschaft im Internet. Darin rief der Gründer dieser immer mehr Nachahmer findenden Bewegung gegen die staatliche Corona-Politik zu einem Autokorso in Stuttgart auf. Die Landeshauptstadt Baden-Württembergs war 2020 die "Querdenken"-Keimzelle Deutschlands. Inzwischen gibt es lokale Ableger im Norden, Westen und Süden der Republik. Demonstriert wird überall, wobei die größten Kundgebungen im vergangenen Jahr im Osten stattfanden: in Berlin und Leipzig.
Beide Male endeten die Demos gewaltsam. Wie auch am Mitte März in Dresden (Sachsen) und eine Woche später in Kassel (Hessen).
Bilder von prügelnden Demonstranten und Polizisten passen aber so gar nicht zum Image, das sich "Querdenken" selbst gibt. Michael Ballweg und seine Gefolgschaft betonen stets ihre Verfassungstreue und Friedfertigkeit. Tanzen und Singen gehört auf Kundgebungen zum Standardrepertoire. Aber das ist nur eine Facette: Auch Rechtsextremisten sind Stammgäste auf den Demos. Und niemand stört sich daran.
Der Demokratie-Forscher Reiner Becker von der Universität Marburg (Hessen) erkennt darin ein wiederkehrendes Muster. "Es ist eine Entscheidung eines jeden einzelnen, an einer solchen Demonstration teilzunehmen", sagt er im DW-Interview. Soll heißen: Jeder ist selbst dafür verantwortlich, in welche Gesellschaft er sich begibt. Zugleich sei den Teilnehmern die Strategie bekannt, die Polizei mit der "schieren Masse" der Demonstranten zu überwältigen und sich nicht an die von Gerichten vorgegebenen Auflagen zu halten.
Extremismus-Experte warnt vor pauschaler Polizei-Kritik
Genau das passierte zuletzt auch wieder in Kassel: Statt der erlaubten 6000 Teilnehmer zogen am Ende mehr als dreimal so viele durch die Straßen. Die allermeisten hielten weder den geforderten Mindestabstand von 1,5 Metern ein noch trugen sie Corona-Schutzmasken. Auch Gegendemonstranten waren unterwegs. Als die Lage immer unübersichtlicher und brutaler wurde, wehrte sich die Polizei nach eigenen Angaben zu ihrem Schutz mit Schlagstöcken, Pfefferspray und Wasserwerfern. Im Internet kursieren aber auch Fotos und Videosequenzen von Polizisten, die auf Demonstranten einschlugen.
Pauschale Kritik am Verhalten der Beamten hält Christopher Vogel für unangemessen. Er arbeitet im Mobilen Beratungsteam gegen Rassismus und Rechtsextremismus in Kassel und hat die ausufernde Demo vor Ort beobachtet. Das Klientel, dem er dort begegnet ist, sei auch für die Polizei "ungewohnt", sagt Vogel im DW-Gespräch. So hätten einige ihre Kinder "in die erste Reihe gestellt, quasi als Schutzschilde". Es gab aber auch Auseinandersetzungen zwischen Rechten und Linken - und irgendwo dazwischen waren Familien.
"Die wollen Ruhe vor dem Staat"
"Rein optisch und vom Verhalten der Leute her war das nicht so eindeutig", beschreibt Vogel die unübersichtliche Gemengelage. Treibende Kraft war die Initiative "Freie Bürger Kassel". Eine Gruppe, die sich in ihrem Erscheinungsbild und ihrer Rhetorik unverkennbar am Stuttgarter "Querdenken"-Vorbild orientiert. Für die Polizei sei es dann schwer zu sagen: "Okay, dann wissen wir jetzt, was wir machen sollen und wie es geht", meint Demo-Beobachter Vogel. Sein Fazit: "Das war nicht mehr zu beherrschen."
Die Substanz der Bewegung hält er für "äußerst dünn". Im Prinzip gehe es "Querdenkern" nur um ihre individuelle Freiheit. Das sei wenig verbunden mit darüber hinaus gehenden gesellschaftspolitischen Forderungen. "Die wollen nur zurück zur Normalität und ihre Ruhe vor dem Staat haben", glaubt Vogel. Wenn Corona von den Titelseiten verschwinde, werde sich ein großer Teil wieder vom politischen Engagement verabschieden.
Aus Grünen-Wählern werden AfD-Sympathisanten
Diese Einschätzung passt zu den Ergebnissen einer im Dezember veröffentlichten Studie des Soziologen Oliver Nachtwey von der Uni Basel. Er und sein Team haben mehr als 1100 "Querdenker" zu ihren Motiven und Einstellungen befragt. Demnach hat fast die Hälfte vor dem Corona-Protest noch nie an einer Demonstration teilgenommen. "Sozialstrukturell handelt es sich um eine relativ alte und relativ akademische Bewegung", lautet ein Befund. Weniger als zehn Prozent sind jünger als 30, der Altersdurchschnitt liegt fast bei 50.
Fast zwei Drittel der Befragten haben mindestens das Abitur, mehr als die Hälfte von ihnen hat ein Studium beendet und 67 Prozent zählen sich selbst zur Mittelschicht. Bei der Bundestagswahl 2017 haben 23 Prozent die Grünen gewählt, 18 Prozent die Linken und 15 Prozent die rechte Alternative für Deutschland (AfD). Das war allerdings lange vor Corona. Bei der nächsten Bundestagswahl darf die AfD im "Querdenken"-Milieu fast mit einer Verdopplung der Stimmen rechnen: 27 Prozent. Während die Grünen auf dem Niveau der Konservativen (CDU/CSU) landen: ein Prozent.
"Querdenker"-Glaube: Regierung verschweigt die Wahrheit
Die weitaus meisten, nämlich 61 Prozent, wollen im September unbekannte Splitterparteien wählen, darunter die erst im Juli 2020 gegründete Basisdemokratische Partei Deutschlands. Auf ihrer Homepage stehen Sätze wie: "Wer behauptet, in unserem Land herrsche Freiheit, der lügt. Denn Freiheit herrscht nicht." Diese Wahrnehmung spiegelt sich in der "Querdenker"-Studie wider: Dort stimmen fast 80 Prozent der Aussage zu, man könne nicht mehr seine Meinung sagen, ohne Ärger zu bekommen. Rund 75 Prozent sind der Auffassung, Medien und Politik steckten unter einer Decke und die Regierung verschweige die Wahrheit.
Charakteristisch für die "Querdenken"-Bewegung sei eine starke Entfremdung von den Institutionen des politischen Systems, den etablierten Medien und den alten Volksparteien, lautet eine zentrale Erkenntnis der wissenschaftlichen Untersuchung. Ein weiterer Befund: Ihre Anhänger seien nicht "ausgesprochen fremden- oder islamfeindlich" und teilweise "eher anti-autoritär und der Anthroposophie zugeneigt". Diese Selbsteinschätzung scheint zu den Bildern von "Querdenker"-Demos zu passen. Tanzende, trommelnde, singende Menschen - auf der einen Seite. Auf der anderen: Rechtextremisten mit Reichskriegsflagge und antisemitischen Parolen.
Provokationen mit dem Judenstern
Die einen sehen fast aus wie Hippies aus der Flower-Power-Zeit in den 1960er- und 1970er-Jahren. Die anderen provozieren mit dem gelben Judenstern aus der Nazi-Zeit, den sie auf Demonstrationen mit dem Zusatz "ungeimpft" zur Schau tragen. Als Ausdruck ihrer angeblichen Stigmatisierung durch das von ihnen abgelehnte System. Die Grenzen von weit links nach weit rechts sind fließend. Für den Verfassungsschutz in Baden-Württemberg zu fließend. Deshalb wird die "Querdenken"-Bewegung seit Dezember in ihrem Stammland offiziell beobachtet.
"Gezielt werden extremistische, verschwörungsideologische und antisemitische Inhalte mit einer legitimen Kritik an den staatlichen Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie vermischt", hieß es damals in der Begründung. Knapp vier Monate später sieht sich die Behörde in ihrer Entscheidung bestätigt. Man habe zusätzliche Erkenntnisse über regionale "Querdenken"-Ableger erlangt, "was ein umfassenderes Bild über das Netzwerk der Initiative im Land ergibt", teilte ein Sprecher des Verfassungsschutzes auf DW-Anfrage mit.
Nächste Großdemo am 3. April in Stuttgart geplant
Außerdem habe man weitere Informationen über "Verflechtungen von führenden 'Querdenken'-Akteuren in das Milieu der 'Reichsbürger' und 'Selbstverwalter' erhalten, heißt es in der Antwort. Auch das Bundeskriminalamt (BKA) schaut genau auf die Szene: "Wir achten sehr aufmerksam auf die Entwicklung in allen Phänomenbereichen des Extremismus und passen unsere Gefährdungseinschätzungen regelmäßig der Lageentwicklung an", heißt es in einer Mitteilung an die DW. Konkreten Anschauungsunterricht gibt es womöglich schon bald auf der nächsten geplanten Großdemonstration am 3. April in Stuttgart. Es sei denn, die Versammlung wird noch verboten. Bislang sind solche Anträge aber meistens vor Gericht gescheitert.