Corona-Proteste im Aufwind
5. August 2020Sie drängten sich, dicht an dicht. Rufe hallten über den Platz vor dem Brandenburger Tor, Fahnen wehten. "Wir sind die zweite Welle", skandierten einige, und "Widerstand". Es waren ungewöhnliche Bilder für Berlin dieser Tage.
Ungewöhnlich auch die Mischung der Protestierenden: Eine heterogene Gruppe vor allem aus Rechtsradikalen, Verschwörungsideologen, Impfgegnern und Esoterikern. Unter dem fragwürdigen Motto "Tag der Freiheit - das Ende der Pandemie" demonstrierten sie gegen die staatlichen Corona-Maßnahmen. Den Titel "Tag der Freiheit" trägt auch ein Propagandafilm der Nazi-Ikone Leni Riefenstahl über den Parteitag der NSDAP im Jahre 1935.
Die umstrittene Stuttgarter Initiative "Querdenken 711" hatte zuerst zu dem Protest in Berlin aufgerufen (711 wegen der Stuttgarter Vorwahlnummer). "Querdenken 711" hat bereits in Stuttgart Demos organisiert, die bisher größten des Landes, und wird unter anderem von Impfgegnern getragen. Tausende Menschen aus anderen Bundesländern waren dem Aufruf gefolgt und nach Berlin angereist, laut Polizei waren es rund 20.000.
Geeint im Glauben an Verschwörungsmythen
Schwarz-weiß-rote Fahnen flatterten über den Köpfen der Menschen, die alte Reichsflagge, ein rechtes Symbol. Sogenannte Reichsbürger und rechte Gruppen demonstrieren damit oft ihre Ablehnung der bundesdeutschen Demokratie. Neben ihnen marschierten oder tanzten Leute, die "Peace" ("Friede")- und Regenbogenfahnen, oder "Jesus-lebt"- Schilder hochhielten.
Mittendrin einige Familien und Menschen, die einfach von den Maßnahmen zur Eindämmung von Corona verunsichert sind, ohne einer Verschwörungstheorie anzuhängen. Doch die weltanschaulichen Unterschiede schienen niemanden zu stören.
So heterogen die Gruppe auch ist, eint sie doch die Ablehnung der staatlichen Corona-Maßnahmen. Viele empfinden zudem ein tiefes Misstrauen gegenüber den Medien. Immer wieder wurde auch eine Journalistin der DW beleidigt, bedrängt und in aggressivem Ton aufgefordert, ihre Maske abzunehmen.
Feindbilder Merkel und Gates
Manche Poster und Banner machen deutlich: Ihre Träger leugnen bereits die Existenz des Virus und glauben, Corona sei eine großangelegte Täuschungsaktion. So wolle die Bundesregierung Deutschland in eine Diktatur verwandeln.
Vereinzelte Demonstranten trugen Judensterne an ihrer Kleidung, darin das Wort "Ungeimpft". Damit setzen sich die Impfgegner der heutigen Zeit mit den verfolgten Juden im Nationalsozialismus gleich und sehen die aktuelle Situation in Deutschland als angebliche Diktatur und "Impf-Faschismus". Entsprechend wurden Bundeskanzlerin Angela Merkel, der bekannte Virologe Christian Drosten und Gesundheitsminister Jens Spahn als "Erfüllungspolitiker" betitelt.
Oft zu sehen waren außerdem Schilder mit der Aufschrift "Gib Gates keine Chance" in Anlehnung an die Kampagne "Gib AIDS keine Chance" der Bundesregierung. Diese Verschwörungserzählung lautet, der Microsoft-Gründer Bill Gates wolle alle Menschen zwangsimpfen lassen und ihnen dadurch Mikrochips einpflanzen.
Die Verschwörungsmythen, die seit Beginn der Proteste auf Bannern und T-Shirts prangen, haben ihren Ursprung oft im Netz. Einige prominente Akteure der rechten und verschwörungstheoretischen Szene befeuern sie seit Beginn der Proteste vor vier Monaten mit Hilfe der sozialen Medien. Ihre Aufrufe spielen eine wesentliche Rolle dabei, dass Menschen überhaupt auf die Straße gehen. Immer wieder sieht man auf den Demo-Schildern Bezüge zu den Inhalten auf den Kanälen.
Digitale Strippenzieher
Die erste Demonstration gegen die Corona- Auflagen hat vor vier Monaten der ehemalige Journalist Anselm Lenz angestoßen. Der im linken Spektrum verortete Lenz behauptet, der Staat habe sich "mit Pharma- und Digitalkonzernen verbündet, um die Demokratie abzuschaffen".
Gerade einmal 40 Leute kamen zu dieser ersten Versammlung auf dem Berliner Rosa-Luxemburg-Platz. Einen Monat später waren es rund tausend Teilnehmer, und schon zu diesem Zeitpunkt wurden "Gib-Gates-keine-Chance"-Banner hochgehalten, und es wurde von einer "Impf-Diktatur" gesprochen.
Einer der ersten, der dort mitmischte, war Ken Jebsen. Der ehemalige Radiomoderator wurde 2011 wegen antisemitischer Äußerungen entlassen. Seitdem hat er mit seinem YouTube-Kanal und der Website KenFM eine alternative Medienmarke aufgebaut. Reichweite: 490.000 Abonnenten. Er interviewte Lenz auf einer der ersten Demos.
Auf YouTube verbreitet Jebsen außerdem, dass Bill Gates angeblich die Weltgesundheitsorganisation unterwandere, um dann mit einem Impfstoff Geld zu verdienen. Das Video erntet Applaus von Jebsens Anhängern, wird massenhaft verbreitet und verzeichnet innerhalb einer Woche drei Millionen Klicks.
Bill Gates ist auch das Hauptfeindbild des Show-Kochs Attila Hildmann. Als Autor von veganen Kochbüchern wurde er bekannt, nach wenigen Wochen der Pandemie wurde er zum aktiven Corona-Leugner. Nachdem Instagram ihn wegen des Verstoßes der Verhaltensregeln sperrte, zog er mitsamt Followerschaft auf den Messengerdienst Telegram um. Dort folgen ihm, Stand heute, über 68.000 Menschen. Hier nennt Hildmann Bill Gates einen Satanisten, Angela Merkel eine Marionette Chinas und ruft dazu auf, sich notfalls mit Waffen gegen die Corona-Auflagen zu wehren.
In dieses Horn stößt auch Verschwörungsideologe Heiko Schrang. Er spricht in seinen YouTube-Videos wechselweise über die vermeintliche Manipulation der Gesellschaft durch die Mainstream-Medien, darüber, dass Corona eine Lüge sei und die mündige Bevölkerung sich von "denen da oben" nichts sagen lassen solle.
Sind sie die zweite Welle?
Die reichweitenstarken Verschwörungsideologen bauen einen gemeinsamen Feind auf: Es sind der deutsche Staat, Bill Gates oder die sogenannte "Zionistische Weltverschwörung". Und in ihrer alternativen Medienwelt ergeben die kruden Theorien Sinn, die Verbreiter stimmen sie aufeinander ab, gehen teils nahtlos aufeinander ein.
Doch dann schien den Corona-Leugnern der Zündstoff auszugehen. Die Infektionszahlen sanken, Lockerungen sorgten für Zufriedenheit in der Gesellschaft. Jetzt steigen die Zahlen, ein zweiter Lockdown wird diskutiert, die Bewegung bekommt wieder Aufwind.
Als vor kurzem dann 20.000 Menschen dem Aufruf der Initiative "Querdenken 711" aus Stuttgart folgten, übertrugen Jebsen und Hildmann live auf ihren Kanälen und lobten die "Kämpfer für die Freiheit". Wie massenweise andere Unterstützer der Demonstration, verbreiten sie die völlig übertriebene Teilnehmerzahl von über einer Million.
Im Demonstrationszug trugen viele Teilnehmer T-Shirts mit einem goldenen Punkt in einem goldenen Kreis. Sie sind dem Umschlag von Heiko Schrangs Buch nachempfunden. Das überrascht nicht, denn Schrang war auf der Demonstration in Berlin so etwas wie ein Stargast. Auf der Bühne feuerte er die Zehntausenden an. Und er versprach eine große Zukunft: Die Befreiung von der "Corona-Diktatur" habe endlich begonnen. Eine Aufnahme seiner Rede auf YouTube nennt er "Sommermärchen 2020". Sie wurde allein in der ersten Stunde über 13.000 mal geklickt.