Corona: Zerrissenheit als Lebensgefühl
17. November 2021Die Schilderung klingt dramatisch: Seit 20 Jahren, sagt Schwester Sonja Rönsch, leite sie die Diakonissenanstalt Emmaus in der Oberlausitz, im Südosten der Bundesrepublik. Mehrfach sei der Betrieb in dieser Zeit umstrukturiert worden. "Aber der April 2020, der hat alles getoppt."
Zu Emmaus gehört ein Pflegeheim mit gut 90 Plätzen. Binnen eineinhalb Tagen war die Hälfte der Bewohnerinnen und Bewohner, aber auch der Pflegekräfte infiziert. "Wir sind von Corona überschwemmt worden", sagt Sonja Rönsch. Und sie berichtet, wie sie das Nötigste nur mit Mühe habe organisieren können. Zu einigen Masken kam sie durch Anrufe beim sächsischen Ministerpräsidenten, ein paar Schutzanzüge stellten Malerbetriebe und die Polizei zur Verfügung. "Überlebt haben wir das Ganze, weil Menschen sich haben berühren lassen und ihre Schränke aufgemacht haben."
Zwischen Verzweiflung und Erfolg
Die Oberin aus der Oberlausitz äußerte sich bei einer Tagung "Blick zurück nach vorn. Wie die Pandemie das Lebensgefühl der Menschen verändert hat" der Evangelischen Kirche in Deutschland und mehrerer untergeordneter Organisationen. Im Zentrum stand eine qualitative Langzeitstudie: Wie gehen die Menschen in Deutschland mit der Pandemie um, wie sehen psychosozialen Folgen aus? Im Kern so: Das Lebensgefühl der Menschen ist höchst ambivalent, also zerrissen, zwiespältig und widersprüchlich. Wie bei Schwester Sonja Rönsch: zwischen Verzweiflung, Durchhalten und Erfolg.
Aber je länger, desto schwieriger wird laut Studie die Gemütslage vieler Menschen. Die Wortschöpfung "mütend", die nach einigen Corona-Monaten aufkam und sich aus "müde" und "wütend" zusammensetzt, trifft nach Einschätzung von Diakonie-Präsident Ulrich Lilie den Gefühlszustand der meisten Menschen in der Pandemie.
Die acht Corona-Typen
Für die Studie befragten Sozialwissenschaftler der Evangelischen Zukunftswerkstatt "midi" über ein Jahr während der ersten drei Corona-Wellen 50 Menschen aus einem Querschnitt der Bevölkerung in langen Interviewgesprächen. Da ging es um den Alltag in der Pandemie, um Halt und Orientierung und Zweifel, um die Beiträge von Kirche und Diakonie. Nach "midi"-Angaben war es im deutschsprachigen Raum die erste Langzeitstudie zum Lebensgefühl in den ersten drei Phasen der Pandemie. Daraus arbeiteten die Experten acht verschiedene Corona-Typen in der Gesellschaft heraus: "Die Achtsamen, die Ausgebrannten, die Denker:innen, die Empörten, die Erschöpften, die Genügsamen, die Mitmacher:innen und die Zuversichtlichen."
Wie sehr die Zerrissenheit, die Ambivalenz, auch bewährte kirchliche Kräfte trifft, verdeutlicht die evangelische Pastorin Gerlinde Feine aus Böblingen in Baden-Württemberg. Sie erzählt zunächst munter. Aber die Perspektive ist skeptisch. Kirche sei durch die Vorgaben der Pandemie-Bekämpfung unter Druck geraten und habe im digitalen Raum stattgefunden. "Nun sind wir sehr zusammengerückt, weil wir viele verloren haben. Die kommen einfach nicht wieder."
Der Frust der Pfarrerin
Sie berichtet, wie sehr sie bei Feiern im Gotteshaus auf Teilnehmerzahlen, Sitzabstand und andere Corona-Vorgaben achten muss - während jeder ungebundene Anbieter einer Trauung unter freiem Himmel viel mehr Möglichkeiten hat. Geradezu begeistert schildert sie, wie sie an Heiligabend 2020 Bilder zur Weihnachtsgeschichte vom Böblinger Rathaus aus mit dem Projektor auf dem Kirchenturm zeigten und wie das die Menschen erfreute und es in jede regionale Zeitung schaffte. Aber der engagierten Schilderung folgt der hörbare Frust über viel Verständnis für Corona-skeptische "Querdenker" auch im kirchlichen Milieu. "Ich habe jetzt eine Kollegin, die betet für mich, weil ich geimpft bin", sagt die Pfarrerin.
Dabei habe sie nun schon eine Situation erlebt, in der letztlich jemand gestorben sei, weil er wegen belegter Krankenhäuser "nicht mehr rechtzeitig auf eine Intensivstation" gekommen sei. "Da kommt dann zu der Trauer auch noch Wut dazu." Und aus "mütend", sagt sie, könne wieder wütend werden.
Weder Schwester Sonja Rönsch noch Pastorin Gerlinde Feine zählen zu den 50 Befragten der Langzeitstudie, deren Namen anonym blieben. Aber die beiden verkörpern nach Überzeugung der Experten die existenziellen Belastungen und die Zerrissenheit in Corona-Zeiten.
Zuhören und Verstehen
Für midi-Studienleiter Daniel Hörsch zeigt die Studie die "Zwiespältigkeiten" im Erleben der Pandemie auf. Er nennt "Widersprüchlichkeiten, Unsicherheiten und Ungewissheiten". Und er ist nach der Studie überzeugt: "Die materiellen und die psychosozialen Folgen von Corona werden unsere Gesellschaft noch lange beschäftigen." Kirchen und Wohlfahrtsträger bräuchten dafür ein besseres Verständnis. Hörsch rechnet mit einem wachsenden Bedarf an fachlicher Beratung und an flächendeckenden Angeboten. Dabei nennt er ausdrücklich die "knapp drei Millionen Kinder in relativ armen Haushalten".
Eines der bemerkenswerten Ergebnisse der Studie ist nach Angaben der Autoren übrigens, mit welcher Offenheit die Gesprächsteilnehmer schon auf die Frage "Wie geht es ihnen?" antworteten. Der Münchner evangelische Theologe Christian Albrecht nennt die Qualität dieser ausführlichen Antworten "ein bisschen beschämend" für Kirche. Vielleicht stelle Kirche "diese Frage ein wenig zu selten". Menschen, das sei in der Pandemie deutlich geworden, erwarteten "kirchliche Angebote, die konkret hilfreich sind". Was Kirche an großen und allgemeinen Worten sage, passe dazu nur bedingt.