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PolitikNahost

Alarmierende Corona-Zahlen aus Gaza

26. November 2020

Experten schlagen Alarm: Die Corona-Pandemie im Gaza-Streifen könnte sehr bald außer Kontrolle geraten. Die Krankenhäuser sind für steigende Fallzahlen nicht hinreichend gerüstet. Ärzte bitten um internationale Hilfe.

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BG | Bau von temporären Coronavirus Kliniken | Palästina - Rafah
Mitglieder der Weltgesundheitsorganisation WHO besichtigen eine temporäre Quarantäne-Station in der Stadt RafahBild: Reuters/WHO in the Occupied Palestinian Territories

Eindringlich warnt Eyad Abu Karsh vom Palästinensischen Gesundheitsministerium  vor einer humanitären Katastrophe: Die Corona-Pandemie nehme im Gazastreifen verheerende Ausmaße an, die dort lebenden Menschen seien dringend auf internationale Hilfe angewiesen. "Im Gazastreifen gibt es keine lebensrettende Infrastruktur, um einer Epidemie oder Krise zu begegnen", so Abu Karsh. Immerhin habe das Gesundheitsministerium die Zahl der spezifisch für COVID-19-Patienten eingerichteten Betten mittels erheblicher Anstrengungen von 100 auf 150 erhöhen können, sagt Abu Karsh. "Und in den kommenden Wochen werden wir versuchen, 30 weitere Betten zu beschaffen."

Ideale Ausbreitungsbedingungen

Allerdings dürften diese Maßnahmen kaum ausreichen, wenn sich die Pandemie weiter im selben Tempo verbreitet wie derzeit. Dabei bietet der Gazastreifen denkbar schlechte Voraussetzungen zur Eindämmung des Virus. In dem rund 360 Quadratkilometer großen Gebiet leben derzeit fast 2 Millionen Menschen. Das bedeutet eine Bevölkerungsdichte von mehr als 5300 Einwohnern pro Quadratkilometer. Zum Vergleich: In Deutschland sind es im Schnitt rund 230 Einwohner pro Quadratkilometer.

Zudem ist der Wohnungsmarkt äußerst angespannt. Der Gazastreifen brauche mindestens 12.000 neue Wohneinheiten, hatte der stellvertretende Wohnungsbauminister Naji Sarhan noch im Januar, nur wenige Wochen vor dem Ausbruch der Pandemie, erklärt. Entsprechend dicht sind die Wohnungen belegt. Auch dieser Umstand fördert die Verbreitung des Virus.

BdTD Palästina Wandbild Coronavirus
Unsichtbare Gefahr: Eine Künstlerin warnt mit einem Graffiti vor den Gefahren des Corona-VirusBild: Mahmoud Ajjour/ZumaPress/Imago Images

"Ein Desaster"

So sind die Umstände, unter denen viele Menschen leben, ausgesprochen schwierig. "Es ist ein Desaster", sagt Ahmed Alnajar, ein junger Mann aus Gaza-Stadt, im Gespräch mit der DW. Er selbst wurde in der zweiten Novemberhälfte mit schweren Symptomen eingeliefert. Dann erholte er sich wieder und konnte das Krankenhaus verlassen.

"Es ist schlimm", beschreibt Alnajar die derzeitige Entwicklung. "Alle Mitglieder meiner Familie sind infiziert und ebenso unsere Nachbarn. Es gibt kaum eine Straße, in der es keine Erkrankungen gibt." Besonders mache den Menschen die räumliche Enge zu schaffen: "Das setzt uns sehr zu, denn wir leiden nicht nur am Virus selbst, sondern auch an den psychologischen Folgen, die die Erkrankung mit sich bringt. Sie sind in den beengten Verhältnissen besonders bedrückend."

Ökonomische Bedrängnis

Hinzu kommt die angespannte ökonomische Lage vieler Bürger. Die Arbeitslosenquote lag bis vor kurzem bei 45 Prozent, unter Jugendlichen war sie noch höher. Aufgrund der Pandemie sei sie massiv gestiegen, erklärte der Direktor des Gewerkschaftsverbands im Gaza-Streifen, Sami al-Amsi: Inzwischen seien 82 Prozent der Bevölkerung ohne Arbeit. Durch die Pandemie seien bislang rund 160.000 Arbeitsplätze verloren gegangen.

Rund 13.000 Menschen beziehen ein Gehalt vom Hilfswerk der Vereinten Nationen für die palästinensischen Flüchtlinge (UNRWA). Damit ist dieses der größte Arbeitgeber im Gazastreifen. "Die Bevölkerung dort ist weitgehend von internationalem Beistand abhängig", sagte dessen Direktor, Philippe Lazzarini, kürzlich im DW-Interview. Allerdings ist das UNRWA derzeit selbst massiv unterfinanziert. Wichtige Leistungen drohen auszufallen.

BdTD | Palästina Rafah | Kinder warten auf Grenzöffnung zu Ägypten
Mit Maske, aber dicht an dicht: Kinder in einem Auto in GazaBild: Ashraf Amra/ZUMA Wire/imago images

"Hunger gefährlicher als das Virus"

In der Omar Al-Mukhtar-Straße in Gaza-Stadt sind noch eine Reihe Menschen unterwegs. Ahmed Al-Bana verkauft dort Gesichtsmasken. Seinen Job als Zimmermann hat der 25-Jährige infolge der Pandemie verloren. "Ich arbeite hier täglich ein paar Stunden", sagt er im Gespräch mit der DW. "Um fünf Uhr nachmittags muss ich dann einpacken. Für mich selbst stellt der Hunger eine größere Gefahr als das Virus dar." Eine eigene Wohnung hat er nicht. So lebt er weiterhin im Haus seiner Familie. "Mein Vater ist krank. Hilfe bekommen wir nicht. Deshalb begebe ich mich trotz aller Risiken zur Arbeit. Ich halte mich aber an die Sicherheitsvorkehrungen und trage auch die Maske."

Dramatischer Anstieg der Infektionen

Derweil steigt die Zahl der Infektionen dramatisch. Täglich gibt es derzeit in den Autonomiegebieten insgesamt - also in der Westbank und dem Gazastreifen - rund 1800 Neuerkrankungen. Insgesamt wurden in den Palästinensergebieten bereits mehr als 75.000 Infektionen und über 650 Verstorbene registriert.

Gehe es in diesem Tempo weiter, gerate die Situation in spätestens zehn Tagen außer Kontrolle, sagt der Mikrobiologe Abdelraouf El-Manama von der von der Regierung eigens eingerichteten Taskforce zur Bekämpfung der Pandemie in einem Pressegespräch. "Wir werden dann nicht mehr in der Lage sein, diesen Anstieg zu bewältigen. Möglicherweise finden dann nicht mehr alle darauf angewiesenen Patienten Aufnahme in die medizinischen Intensivzentren."

Gaza Streifen | Lockdown wg Coronavirus
Isolation als Schutz: Leere Straßen in Gaza-Stadt, August 2020Bild: picture-alliance/Pacific Press/R. Habboub

Auch Abdelnaser Soboh, Notfallhilfe-Koordinator der Weltgesundheitsorganisation im Gazastreifen, warnte vor einem möglichen Zusammenbruch der medizinischen Versorgung der Corona-Patienten. "In der kommenden Woche werden wir nicht mehr in der Lage sein, Patienten in kritischem Zustand zu versorgen", erklärte er am Dienstag dieser Woche. Die Infektionsrate unter den Getesteten liege mittlerweile bei 21 Prozent - wobei es immer mehr Betroffene über 60 Jahren gebe. "Dies ist ein gefährlicher Indikator", warnte Soboh, da damit zu rechnen sei, dass insbesondere viele ältere Infizierte ins Krankenhaus eingewiesen werden müssten.

Der Gazastreifen ist dringend auf schnelle medizinische Hilfe angewiesen. Man bitte die internationale Gemeinschaft um medizinische Geräte, sagt Fathi Abuwarda, Berater des palästinensischen Gesundheitsministers. Bleibe diese Hilfe aus, würden die Infektions- und Todeszahlen weiter steigen.

DW Kommentarbild | Autor Kersten Knipp
Kersten Knipp Politikredakteur mit Schwerpunkt Naher Osten und Nordafrika