Impfen: Wurden behinderte Menschen vergessen?
7. Februar 202120 Minuten Warten nach dem Pieks. Wie reagiert Benni Overs Körper auf den Corona-Impfstoff? Gibt es Komplikationen? Nichts passiert, alles gut. Overs Eltern Klaus und Connie schieben seinen Rollstuhl zum Auto, fahren vom Impfzentrum zurück nach Hause, ins Dorf Niederbreitbach im Westerwald, ganz im Westen Deutschlands. So erzählt es Klaus Over der DW am Telefon.
Es ist der 28. Januar und es ist Benni Overs zweite Impf-Dosis. Der 30-Jährige leidet an Muskelschwund. Er sitzt im Rollstuhl, kann nur noch seine Finger bewegen, ein Schlauch im Hals gibt seiner Lunge Sauerstoff. Eine COVID-19-Erkrankung könnte ihm den Tod bringen.
Seit Monaten hatte er deshalb keine Therapeuten zu Besuch. Verzichtete auf Lymphdrainage - also auf eine medizinische Reinigungsmassage -, auf Osteopathie, Physiotherapie, Atemtherapie. Aus Angst vor Ansteckung pflegten seine Eltern ihn allein, die Overs lebten in völliger Isolation.
Der lange Weg zur Impfung
Nach der Spritze mit der zweiten Schutzimpfung fühlte sich die Familie deshalb wie im Ziel eines Marathonlaufs, sagt Vater Klaus Over der DW am Telefon. "Wir waren erleichtert, aber völlig erschöpft." Am Abend hätten sie Pizza gebacken, sich zusammengesetzt, die vergangenen Monate Revue passieren lassen. "Aber wir wollten eigentlich nicht mehr viel sprechen an diesem Abend. Es war eine totale Erschöpfung da aus den Wochen vorher."
Denn Benni Overs Impfung ist das Ergebnis eines langen, zähen Kampfes. Tausenden Politikern haben seine Eltern geschrieben, im Betreff ihrer E-Mails stand "Hilferuf". Doch keiner konnte helfen. Menschen wie Benni Over - schwer krank, jünger als 60 Jahre und zuhause gepflegt - kommen im deutschen Impfplan nicht vor. Nur wer im Heim betreut wird, taucht in den vorderen Impfgruppen auf. Der Impfplan in Deutschland sieht eine Reihenfolge beim Impfen vor. Drei Gruppen sollen prioritär nacheinander geimpft werden. Zur ersten gehören unter anderem über 80-Jährige und Pflegeheimbewohner. Erst nach den drei Gruppen folgt die allgemeine Bevölkerung.
Die Overs führen unzählige Telefonate, ohne Ergebnis. Erst als sie sich direkt an die rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin Malu Dreyer wenden, wird der Impftermin möglich. Eine Einzelfallentscheidung.
"Das Bewusstsein fehlt"
Mehr als drei Millionen pflegebedürftige Menschen in Deutschland werden zuhause versorgt, von Angehörigen und ambulanten Pflegern. Unter ihnen dürften Hunderttausende unter 60 sein, die zur COVID-19-Hochrisikogruppe gehören. Dass sie im Impfplan berücksichtigt werden, dafür kämpft auch Christian Homburg. Der 24-Jährige arbeitet als technischer Produktdesigner, lebt selbstbestimmt in seiner Wohnung in Warendorf in Nordrhein-Westfalen. Wie Benni Over leidet auch er an Muskelschwund, braucht rund um die Uhr Hilfe von Pflegern.
Homburg hat eine Petition gestartet, sie fordert schnelleren Impfschutz auch für schwerbehinderte Menschen außerhalb von Pflegeheimen. Die Gesellschaft gehe davon aus, dass schwerbehinderte Menschen generell im Heim lebten, sagt Homburg der DW am Telefon. "Es wird nicht daran gedacht, dass es auch welche gibt, die in der eigenen Wohnung leben. Dabei wird so gern von Inklusion gesprochen. Aber das Bewusstsein dafür fehlt." Seine Petition hat Homburg direkt an Gesundheitsminister Jens Spahn gerichtet. Auf eine Rückmeldung wartet er. Auch auf Nachfrage der DW gibt es aus dem Gesundheitsministerium keine Antwort auf die Petition.
Ein erster Erfolg
Dabei haben mehr als 60.000 Menschen Homburgs Aufruf bislang unterschrieben. Und es gibt einen ersten Erfolg. Das Bundesgesundheitsministerium arbeitet an einer neuen Impfverordnung, die eine so genannte Öffnungsklausel vorsieht. Am kommenden Montag soll die neue Verordnung in Kraft treten. Damit werden Einzelfallentscheidungen wie die von Benni Over erleichtert. "Allerdings ist es mit dieser Öffnungsklausel nur möglich, entweder von der allgemeinen Bevölkerung in Gruppe drei zu kommen oder von Gruppe drei in Gruppe zwei zu rücken", sagt Homburg. Nicht jedoch in Gruppe eins, in die höchste Prioritäts-Stufe. "Es könnte also schon noch ein bisschen dauern bei der aktuellen Knappheit", sagt Homburg. "Aber es sieht zumindest nicht danach aus, als müssten wir noch ein halbes Jahr warten."
Bis dahin wird Christian Homburg seine Wohnung nicht verlassen, keine Freunde treffen. Und solange wird auch Norbert Kokott weiter in Sorge leben. "Sorge, nicht Angst", sagt der Arzt aus Berlin der DW am Telefon. Am 30. Oktober 2020 starb seine Mutter an COVID-19. Seine Frau Christine Weiler-Kokott will er vor diesem Schicksal bewahren. Sie ist fast völlig gelähmt, leidet an der Nervenkrankheit ALS. "Ich habe bei meiner Frau schon banale, leichte Erkältungen erlebt", erzählt er der DW am Telefon. "Das war die schiere Hölle. An COVID-19 würde sie ersticken. Das ist das Furchtbare an dieser Krankheit."
"Deutschland hat versagt"
Dass seine Frau nun schneller einen Impftermin bekommen soll, bringe Erleichterung nach Monaten der Anspannung, sagt Kokott. Einen großen Teil der Pflege hat die Familie zuletzt selbst übernommen, um Kontakte nach außen zu reduzieren. Nun habe er Hoffnung, bald einen Impftermin für seine Frau in den Kalender einzutragen, sagt Kokott. "Vielleicht in vier bis sechs Wochen. Aber wie sich das in der Realität darstellen wird, ist nochmal eine ganz andere Geschichte."
Benni Over kann bereits ohne Furcht vor Ansteckung das Haus verlassen. Erster Termin: eine Untersuchung im Bundeswehrkrankenhaus in Koblenz. Beim Absaugen von Sekret aus seiner Luftröhre war in den vergangenen Wochen immer wieder Blut zu sehen gewesen. Ab kommender Woche sollen dann auch wieder Therapeuten zu ihm nach Hause kommen. Ein bisschen Normalität kehrt zurück für Familie Over. "Wir haben uns fest vorgenommen, dass wir uns weiter einsetzen für Fälle wie Benni", sagt sein Vater Klaus. "Aus meiner Sicht hat Deutschland versagt an dieser Stelle." Trotz der Impfung für seinen Sohn bleibe das übrig aus dieser Corona-Zeit, als fader Beigeschmack.