Werden jetzt Corona-Hotspots abgeriegelt?
17. Dezember 2020Es sind beunruhigende Nachrichten, die aus Sachsen kommen. Das Bundesland verzeichnet über 400 neue Corona-Infektionen je 100.000 Einwohner binnen einer Woche. In drei Landkreisen liegt dieser Wert sogar weit über 600. Zum Vergleich: In ganz Deutschland sind es derzeit 179 Neuinfektionen je 100.000 Einwohner.
Zwei Tage früher als der Rest der Republik ging Sachsen in den harten Lockdown. Geschäfte, Schulen und Kindergärten sind geschlossen, alle sollen möglichst zu Hause bleiben. Doch das tun sie nicht, bundesweit ist die Mobilität in Sachsen mit am höchsten. Die Landesregierung denkt daher über verschärfende Maßnahmen nach. Offenbar auch darüber, Gegenden mit besonders hohen Infektionszahlen ganz abzuriegeln.
Wird der Lockdown wirken?
Eine Nachricht, die für erhebliche Unruhe sorgt. Noch sei nichts beschlossen, versucht Ministerpräsident Michael Kretschmer die Wogen zu glätten und warnt vor Hysterie und Hektik. Ein Krisenstab habe die Gemeinden mit den höchsten Fallzahlen analysiert, das werde jetzt ausgewertet. Außerdem müsse abgewartet werden, wie die Lockdown-Maßnahmen wirken. Das werde erst in zehn bis 14 Tagen sichtbar. "Vorher ist mit keinen weiteren Einschränkungen zu rechnen", betonte der Ministerpräsident.
Fast alle deutschen Hotspots liegen in Sachsen. Betroffen ist vor allem der Südosten des Landes, das Gebiet, in dem Deutschland, Tschechien und Polen aneinandergrenzen. Zehntausende Menschen arbeiten grenzüberschreitend, fahren jeden Tag ins Nachbarland und zurück. "Wir haben eine enorme Quote von Einpendlern", berichtet der Oberbürgermeister von Bautzen, Alexander Ahrens. "Allein ins Stadtgebiet Bautzen kommen fast 20.000 Pendler pro Tag zum Arbeiten, das ist bei einer Stadt von 40.000 Einwohnern schon eine enorme Zahl."
Das Virus macht vor Landesgrenzen nicht Halt
Tschechien mit seinen zehn Millionen Einwohnern gehört zu den in Europa mit am stärksten von der Pandemie betroffenen Ländern. Bislang sind dort fast 10.000 Menschen an Covid-19 gestorben, die Infektionszahlen sind so hoch, dass der Corona-Notstand jetzt vor Weihnachten erneut verlängert werden soll.
Von einem leitenden Klinikarzt, der auf der deutschen Seite des Dreiländerecks arbeitet, ist zu hören, dass sein Krankenhaus so überfüllt sei, dass bereits die "Triage" angewendet worden sei. Der Begriff kommt aus dem Französischen und heißt übersetzt Auswahl. In diesem Fall, welcher Covid-19-Patient Zugang zu den begrenzt vorhandenen Sauerstoffgeräten erhalte und welcher nicht. Eine Auswahl, die eine Entscheidung über Leben und Tod sein kann.
Sächsisches Bergamo
Viele sächsische Kliniken arbeiten an der Kapazitätsgrenze. Weil Betten fehlen und das medizinische Personal nicht mehr ausreicht. Darauf verwies schon Anfang Dezember der sächsische Bundestagsabgeordnete Markus Wanderwitz. Es drohe ein "sächsisches Bergamo", sagte er mit Verweis auf die Lage in Italien im Frühjahr. Aktuell fehlen im Osten Sachsens, im Erzgebirge, 60 Prozent des Pflegepersonals, weil sie selbst erkrankt oder in Quarantäne sind.
Auch der Oberbürgermeister von Bautzen berichtet, dass die Krankenhäuser an ihre Kapazitätsgrenzen gelangen. Er hat die steigenden Infektionszahlen kommen sehen.
Schon Ende Oktober, als die Corona-Infektions- und Todeszahlen in Tschechien massiv stiegen, habe man im Stadtrat darüber diskutiert, berichtet Alexander Ahrens. "Ich trage die Idee mit, dass wir die Grenze zu Tschechien nicht dicht machen", betont er. Es müssten andere Mittel und Wege gefunden werden, die Pandemie in den Griff zu bekommen.
Maskenverweigerer und Corona-Leugner
Doch die Menschen im Südosten Sachsens lassen sich ungern etwas vorschreiben. "Die schärferen Maßnahmen sind ja Ausdruck genau dessen, dass die Leute sich schon von den vorherigen Maßnahmen bevormundet fühlen", erklärt der Bürgermeister. Was er damit meint, fällt im Stadtbild von Bautzen schnell ins Auge: Immer noch sind Menschen zu sehen, die der Maskenpflicht zum Trotz Mund und Nase nicht bedecken, oder die ungeliebte Maske lässig unter der Nase tragen.
Spricht man sie an, winken die meisten ab und laufen schnell weiter. Andere geben im Gespräch offen zu, dass sie die hohen Infektionszahlen anzweifeln und Medienberichten sowieso misstrauen. Im Spielwarenladen "Holzwurm" werden Menschen ohne Maske ausdrücklich willkommen geheißen, der Inhaber gehört zu denen, die offen dazu aufrufen, sich gegen die in der Pandemie geltenden Einschränkungen zur Wehr zu setzen. Wenn er in seiner Heimat eine Maske trage, fühle er sich angeschaut, als komme er von einem anderen Stern, berichtete Anfang Dezember der Abgeordnete Wanderwitz.
Nur die Konfrontation mit Tatsachen hilft
Einsicht ist bei Menschen zu finden, die selbst an Covid-19 erkrankt sind, oder Fälle in der Familie oder im Freundeskreis haben. "Diese Krankheit wünscht man niemandem", erzählt ein Ehepaar, das bereits eine Corona-Infektion durchgemacht hat, in der Bautzener Fußgängerzone. Ein älterer Mann räumt ein, er habe zunächst nicht an die Gefährlichkeit des Corona-Virus glauben wollen und seine Meinung erst geändert, nachdem seine Tochter, die im Krankenhaus arbeite, ihm die Lage plastisch geschildert habe.
"Ich habe neulich auf meiner Facebook-Seite ein zweiminütiges Video aus dem Krankenhaus Görlitz geteilt, das einfach mal unkommentiert zeigt, was auf den Stationen läuft", sagt Bürgermeister Ahrens. Die Sachsen seien recht glimpflich durch die erste Welle gekommen, deshalb würden viele Menschen nicht glauben wollen, was gerade passiert. "Im Frühjahr hatten wir so gut wie überhaupt keine Fälle hier. Die allermeisten Menschen kannten noch nicht einmal jemanden, der jemanden kannte, der jemanden kannte, der das hatte."
Die DDR-Diktatur wirkt nach
Kombiniert mit den Erfahrungen im Sommer, als die Fallzahlen überall niedrig und stabil waren, seien einige Menschen im Herbst regelrecht überrascht gewesen, "dass das doch ein Problem werden kann", so Ahrens. Ein "Problem", das in den kommenden Wochen im schlimmsten Fall dazu führen könnte, dass die Polizei die Zufahrtstraßen zu den Hotspots in Sachsen sperrt und dafür sorgt, dass niemand mehr ohne weiteres hinein und hinaus kommt.
Alexander Ahrens fürchtet allerdings, dass eine Verschärfung der Ausgangsbeschränkungen nicht ohne weiteres akzeptiert würde. "Eine Umsetzung von Maßnahmen, wie das in China möglich ist, das würde hier keiner mittragen." Als Grund nennt er die Erfahrungen aus der DDR, wo der sozialistische Staat bis ins Detail vorgab, was erlaubt war und was nicht. "Die Leute sind mündiger als noch vor 30 Jahren, sie wollen viel mehr mitgenommen werden. Wir müssen viel mehr über sinnvolle Gebote arbeiten."
Doch auch Ahrens weiß, dass Gebote irgendwann nicht mehr ausreichen. "Wir sind in einer Situation, wo wir zum letzten Mittel greifen müssen, um die Zahlen nicht noch weiter explodieren zu lassen."