Corona-Folgen für Flüchtlinge und Migranten
26. Mai 2021Sarah Lincoln ist Juristin bei der Gesellschaft für Freiheitsrechte (GFF). Gemeinsam mit der Humanistischen Union (HU), Pro Asyl und weiteren zivilrechtlichen Organisationen veröffentlicht sie jedes Jahr den Grundrechte-Report. "Zur Lage der Bürger- und Menschenrechte" heißt es im Untertitel. Die auf 268 Seiten dokumentierte Bilanz fasst sie im DW-Gespräch in einem Satz zusammen: "2020 war kein gutes Jahr für die Grundrechte." Das hat nicht nur, aber sehr viel mit der Corona-Pandemie zu tun.
Massiv sei in Freiheitsrechte eingegriffen worden. Ja, vieles sei "erforderlich und verhältnismäßig" gewesen, um Leben und Gesundheit zu schützen. Aber bei weitem nicht alles. So hätten die politisch Verantwortlichen zu Beginn der Corona-Krise jegliche Form von Demonstrationen verboten. Auch solche mit einwandfreien Hygiene-Konzepten. Beispiel: Bei einer Demo sollten nur Schuhe hingestellt werden, stellvertretend für die Teilnehmerinnen. Auch das sei verboten worden, "obwohl es kein Infektionsrisiko mit sich brachte".
Positiv bewertet Sarah Lincoln die Rolle des Bundesverfassungsgerichts, das in Eilverfahren klarstellte, dass pauschale Verbote unzulässig seien. In jedem Einzelfall müsse geprüft werden, ob bestimmte Auflagen möglich sind, um zum Beispiel den Infektionsschutz zu garantieren. Neben allgemeinen Einschränkungen von Freiheitsrechten will die Verfassungsexpertin den Blick für ohnehin schon oft benachteiligte Gruppen schärfen: Kinder aus sozial schwachen Familien, Beschäftigte in Fleischfabriken, Geflüchtete in Massenunterkünften.
Corona-Quarantäne für 800 Menschen
Der Politik wirft Sarah Lincoln schwere Versäumnisse vor. So seien in den Verordnungen zur Corona-Bekämpfung Sammelunterkünfte für Geflüchtete gar nicht erst vorgekommen. "Niemand hat daran gedacht, dass die Abstände und Kontaktverbote sich in Unterkünften für Geflüchtete, wo hunderte Menschen zusammen auf engem Raum leben, gar nicht umsetzen lassen." Kawe Fatehi hat erlebt, welche Folgen das haben kann. Der im Iran politisch verfolgte Kurde lebte 13 Monate in einer Sammelunterkunft in Halberstadt in Sachsen-Anhalt.
Niemals vergessen wird er den 27. März 2020. Als er an diesem Tag morgens aus dem Fenster blickt, sieht er überall Polizisten vor den mit Gittern abgesperrten Gebäuden. "Was ist hier los?", fragt er sich im ersten Moment. "Mit Lautsprechern verkündeten sie in mehreren Sprachen, dass die Unterkunft unter Quarantäne gestellt wird", erzählt Kawe Fatehi im Gespräch mit der Deutschen Welle.
Kawe Fatehi fühlte sich im Flüchtlingsheim "wie im Gefängnis"
Den rund 800 Bewohnern ist für zwei Wochen verboten, das Gelände zu verlassen. Begründung: eine Person habe sich mit dem Corona-Virus infiziert. Anfangs wird mehrmals täglich die Körpertemperatur gemessen. Fieber könnte Anzeichen für eine Corona-Infektion sein. Erst später seien sie getestet worden – Kawe Fatehi positiv. Das Gelände darf er ohnehin nicht verlassen, nun muss er sogar in seinem Zimmer bleiben. Er fühlt sich "wie im Gefängnis". Rausgehen darf er nur, um auf die Toilette zu gehen – die er sich mit etwa 50 Anderen teilt. Die Kantine ist geschlossen, Essen wird in einem Zelt vor dem Haus ausgegeben.
Versuche des 37-Jährigen, an seiner Situation etwas zu verbessern, bleiben erfolglos: "Wir haben keine andere Wahl", sei die Antwort der Verantwortlichen in der Flüchtlingsunterkunft gewesen. Inzwischen lebt Kawe Fatehi mit Erlaubnis der Ausländerbehörde in Leipzig und lernt an der Universität Deutsch. Im Iran hat er seinen Master in englischer Literatur gemacht. Nun hofft er, in Deutschland weiter studieren oder arbeiten zu können. Beim Jobcenter hat er sich schon gemeldet. "Bislang habe ich aber noch keine Antwort erhalten", sagt er am Ende des Telefonats.
Migrationsexpertin kritisiert "infame Debatte" über Corona-Infektionen
Geschichten und Schicksale wie sie Kawe Fatehi erlebt hat sind es, mit denen das Autoren-Team des Grundrechte-Reports auf gesellschaftliche Missstände hinweist. Seit 1997 gibt es den kritischen Bericht. Bei der Präsentation der 25. Ausgabe am Mittwoch in Berlin ist die Direktorin des Deutschen Zentrums für Integrations- und Migrationsforschung, Naika Foroutan, dabei. An ihrem Institut wurde untersucht, wie viele Menschen mit Migrationshintergrund in sogenannten systemrelevanten Berufen arbeiten. Deren Unverzichtbarkeit in der Corona-Pandemie für alle schlaglichtartig sichtbar wurde: in Supermärkten oder Krankenhäusern.
"Besonders hoch" sei der Anteil mit 37 Prozent in der Altenpflege. Auf fast dem gleichen Niveau liegt er bei Paketdiensten, die in der Corona-Pandemie mehr denn je zu tun haben: 35 Prozent seien es in dieser Sparte, die Naika Fooutan als "sehr prekär" bezeichnet. Um die Zahlen einordnen zu können: In der Gesamtbevölkerung haben 26 Prozent migrantische Wurzeln.
Umstrittener Begriff: Clan-Kriminalität
Die Forscherin erinnert in diesem Zusammenhang an Medienberichte über einen vermeintlichen Zusammenhang zwischen Herkunft und Zahl der Corona-Infektionen: "Warum liegen eigentlich so viele Migranten auf Intensivstationen?", sei gefragt worden. "Das liegt wahrscheinlich an ihren großen Clans, an den Familien-Hochzeiten oder dass sie einfach nicht hygienisch sind." Das sei eine "relativ infame Debatte" gewesen, meint die Professorin.
"Infam" ist auch das Stichwort für Mohammed Chahrour, der sich in der Initiative "Kein Generalverdacht" gegen Kriminalisierung und rassistische Stigmatisierung von ethnischen Minderheiten durch Polizei-Razzien in Berlin-Neukölln engagiert. Sein Vorwurf: Mit dem vorverurteilenden Konzept der Clan-Kriminalität zögen Polizei und Sicherheitsbehörden ethnische Merkmale zur Strafverfolgung heran und verletzten so Grund- und Menschenrechte.
Freude über BND-Urteil des Bundesverfassungsgerichts
Mohammed Chahrour erinnert an Artikel 3 des Grundgesetzes: "Niemand darf wegen seines Geschlechts, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden." Doch das Versprechen des Rechtsstaats werde bei ethnischen Minderheiten und sozial benachteiligten Gruppen nicht eingelöst, kritisiert Mohammed Chahrour. Sippenhaft und Kollektivschuld seien für viele Menschen in Deutschland gesellschaftliche Realität.
Bestimmte Gruppen würden aufgrund ihrer Herkunft als "kriminalitätsaffin" betrachtet: Türken, Araber, Kurden und Südosteuropäer. Sie gerieten durch die Clan-Debatte in das Raster der Strafverfolgungsbehörden. Mohammed Chahrour wundert sich deshalb nicht, dass die Alternative für Deutschland (AfD) bereits in ihrem Programm für die Bundestagswahl 2017 den Entzug der Staatsbürgerschaft für kriminelle Clan-Mitglieder gefordert habe.
Bei aller Kritik an möglichen Verstößen gegen Bürger- und Menschenrechte finden sich im aktuellen Grundrechte-Report aber auch positive Beispiele. So freut sich der frühere Vorsitzende Richter am Verwaltungsgericht Frankfurt am Main, Bertold Huber, über das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes zur sogenannten Ausland-Ausland-Aufklärung des Bundesnachrichtendienstes (BND). Die nunmehr verbotene massenhafte und anlasslose Ausspähung der Telekommunikation sei ein "verfassungshistorischer und -politischer Meilenstein".