Corona-Demo: Tauziehen um die Deutungshoheit
29. August 2020Schon kurz nach Beginn stand alles still. Ein Protestzug aus zehntausenden Demonstrierenden, dicht gedrängt im Berliner Stadtzentrum. So weit das Auge reichte, wurden Fahnen gegen den blauen Berliner Himmel geschwungen, die Deutschlandfahne, neben Nationalflaggen aus Polen, den Niederlanden und Schweden. Unzählige Ballons mit Herz auf weißem Grund propagierten "Liebe-Freiheit-Frieden". Die Stimmung war ausgelassen, fröhlich.
Teilnehmer, die offenkundig aus verschiedenen Bundesländern angereist waren, begrüßten sich freundschaftlich: "Und wo kommt ihr her?", fragte eine Demonstrantin strahlend ihre Mitstreiterinnen. Niemand trug eine Maske, dafür bunte Sonnenschirme mit Lametta und Schilder mit "My body, my choice" oder der Forderung "endlich die deutsche Diktatur zu beenden".
Gemeinsamer Nenner: Dagegen
Eigentlich wollten die Berliner Behörden diese Versammlungen verbieten, das Verwaltungsgericht kippte jedoch das Verbot. Das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg bestätigte dann im Wesentlichen zwei Eilbeschlüsse des Verwaltungsgerichts Berlin. Dass die Demo von der Justiz schließlich genehmigt wurde, diente vielen offensichtlich nicht als Beweis für das Funktionieren der deutschen Demokratie, sondern provozierte ein "Jetzt erst recht".
Ein Demonstrant sagte, er sei auf der Demo, weil er sich um seine Freiheitsrechte sorge: "Mich macht wütend, dass die Maßnahmen so übertrieben sind. Ich finde das völlig unverhältnismäßig." Und noch etwas ärgere ihn: "Wenn hier jemand demonstriert, wird er gleich als rechtsradikal oder als Verschwörungstheoretiker dargestellt. Das ist undifferenziert." Auf die Frage, was er denn von den Leuten mit einschlägig rechten Symbolen halte, sagte er: "Trittbrettfahrer gibt es überall. Da kann man keine Rücksicht drauf nehmen. Die Rechten sind ja auch in der Minderheit."
Angemeldet hatte den Protest die Stuttgarter Initiative "Querdenken 711", die rund 22.000 Teilnehmer erwartete, laut Polizei waren es 38.000. Auch AfD-Politiker und rechtsradikale Gruppen wie die Identitäre Bewegung hatten zur Teilnahme aufgerufen. Auf der Friedrichstraße waren zahlreiche Fahnen im Stil der von Rechtsextremisten häufig verwendeten Reichskriegsflagge zu sehen. Eine Demonstrantin sah darin keinen Grund, nicht zu demonstrieren. "Ich kann nur für meine eigene Position sprechen. Jeder ist aus seiner eigenen Motivation hier. Ich finde, das muss jeder für sich wissen."
Das sahen die Teilnehmer der Gegendemonstration 500 Meter Luftlinie entfernt anders. "Wir sind hier, weil auf der anderen Demo Leute Seite an Seite mit Nazis marschieren", erklärte ein junger Mann aufgebracht. "Zu der Demo haben unter anderem die AfD und die NPD aufgerufen, man kann nicht so tun, als hätte man das nicht gewusst." Die rund 1000 Teilnehmer, davon nahezu alle mit Mund-Nasen-Schutz, skandierten "Ihr marschiert mit Nazis und Faschisten" in Richtung Friedrichstraße. Auch an die anwesende Polizei kam der Vorwurf eines Sprechers der linken Bewegung: "Ihr lasst auf der Friedrichstraße Neonazis marschieren, kümmert euch mal lieber darum!"
Auflösung und Ausschreitung
Die Stimmung dort wurde derweil angespannter. Die Berliner Polizei hatte das Tragen eines Mund-Nase-Schutzes zur Auflage gemacht, weil die Mehrzahl der Demo-Teilnehmer mehrfach vergeblich aufgefordert wurde, die Mindestabstände einzuhalten. Als sich die Teilnehmer weigerten, begannen die Polizisten mit der Auflösung, stellenweise kam es zu Rangeleien mit den Beamten.
Ein Großteil der Menschen machte sich nach der Auflösung durch Seitenstraßen in Richtung Brandenburger Tor und Siegessäule auf. Grüppchen saßen oder lagen entlang der Straße des 17. Juni im Schatten des Tiergartens, Tupperboxen mit selbst geschmierten Broten wurden herumgereicht, manche meditierten oder schliefen in der Sonne.
Andernorts verhielten sich die Demo-Teilnehmer nicht so friedlich, es kam immer wieder zu Zusammenstößen mit der Polizei, nach Angaben der Behörden wurden über den Tag verteilt rund 300 Menschen festgenommen. Vor der russischen Botschaft warfen Reichsbürger und Rechtsextremisten laut Polizei Steine und Flaschen auf die Beamten.
Die Forderungen der Demonstrierenden dürften in anderen europäischen Ländern Kopfschütteln hervorrufen. In Schweden und Griechenland sind Versammlungen von mehr als 50 Personen verboten. In Finnland durften sich bis zu 500 Menschen versammeln, ab September wurde die Zahl auf 50 Personen reduziert. In Großbritannien dürfen sich maximal 30 Personen treffen und in Italien herrscht ein komplettes Versammlungsverbot.